Aufgabe der vorliegenden Arbeit
Die Tatsachen tun jedoch ihre Wirkung. Heute ist der Büchermarkt aller zivilisierten Länder überhäuft mit Büchern über die Sowjetunion. Kein Wunder: solchen Phänomenen begegnet man nicht oft. Die von Mindern reaktionärem Hass diktierte Literatur nimmt immer geringeren Raum ein; ein recht erheblicher Teil der neueren Werke über die Sowjetunion bekommt dagegen einen immer wohlwollenderen, wenn nicht entzückten Anstrich. Als Zeichen für die Besserung des internationalen Ansehens des emporgekommenen Staates ist die Flut der sowjetfreundlichen Literatur nur zu begrüßen. Ist es ja doch auch weitaus löblicher, die UdSSR zu idealisieren als das faschistische Italien. Allein, eine wissenschaftliche Beurteilung dessen, was wirklich im Lande der Oktoberrevolution geschieht, würde der Leser auf den Seiten dieser Literatur vergebens suchen.
Ihrem Typus nach zerfallen die Publikationen der „Freunde der Sowjetunion“ in drei Hauptkategorien. Dilettantischer Journalismus beschreibenden Genres, mehr oder weniger „linke“ Reportage bilden die Hauptmasse der Artikel und Bücher. Daneben, wenn auch mit größeren Prätentionen reihen sich die Publikationen des humanitären, pazifistischen und lyrischen „Kommunismus“. An dritter Stelle steht die ökonomische Schematisierung im Geiste des altdeutschen Kathedersozialismus. Louis Fisher und Duranty sind hinreichend bekannte Vertreter des ersten Typus. Der verstorbene Barbusse und Romain Rolland vertreten am besten die Kategorie der humanitären „Freunde“: nicht von ungefähr schrieb jener, bevor er an Stalin heranging, eine Lebensbeschreibung Christi, und der andere eine Biographie Gandhis. Schließlich, der konservativ-pedantische Sozialismus fand seine hervorstechendsten Vertreter in dem rastlosen Fabierpaar Webb.
Was diese drei Kategorien trotz all ihren Unterschieden eint, ist ihre Verneigung vor der vollendeten Tatsache und ihre Vorliebe für beruhigende Verallgemeinerungen. Gegen den eigenen Kapitalismus zu rebellieren sind sie außerstande. Um so bereitwilliger stützen sie sich auf eine bereits in ihre Ufer zurückgetretene fremde Revolution. Vor dem Oktoberumsturz und noch mehrere Jahre nachher hat nicht einer von diesen Leuten oder ihrer Geistesväter ernstlich darüber nachgedacht, auf welche Weise der Sozialismus zur Welt kommen werde. Um so leichter fällt es ihnen, das in der UdSSR Vorhandene als Sozialismus anzuerkennen. Das gibt ihnen nicht nur das Gepräge von Fortschrittsmännern. die mit ihrer Zeit Schritt halten, sondern auch eine gewisse moralische Festigkeit, ohne sie dabei zu irgend etwas zu verpflichten. Diese Art beschaulicher, optimistischer, durchaus nicht zerstörender Literatur, die alles Ungemach hinter sich zu haben meint, wirkt sehr beruhigend auf die Nerven des Lesers und findet darum wohlwollende Aufnahme. So bildet sich unmerklich eine internationale Schule heraus, die zu nennen wäre Bolschewismus fürs aufgeklärte Bürgertum, oder im engeren Sinn Sozialismus für radikale Touristen.
Wir gedenken mit den Erzeugnissen dieses Typus nicht zu polemisieren, da sie zur Polemik keinen ernsten Anlass geben. Die Fragen sind für sie dort abgeschlossen, wo sie in Wirklichkeit erst beginnen. Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist es, richtig zu beurteilen was ist, um besser zu verstehen was werden wird. Bei dem, was gestern war, wollen wir nur insoweit verweilen, als es uns hilft, besser vorherzusehen, was morgen sein wird. Unsere Darstellung wird eine kritische sein, Wer sich vor dem Vollendeten verneigt, ist nicht fähig, die Zukunft vorzubereiten.
Der wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungsprozess der UdSSR hat schon manche Etappe zurückgelegt, ist aber von innerem Gleichgewicht noch weit entfernt. Betrachtet man als Aufgabe des Sozialismus die Schaffung der klassenlosen Gesellschaft, gegründet auf Solidarität und harmonische Befriedigung aller Bedürfnisse, so ist in diesem Grundsinne an Sozialismus in der UdSSR noch nicht zu denken. Zwar unterscheiden sich die Widersprüche der Sowjetgesellschaft ihrer Natur nach tief von denen des Kapitalismus, sind aber nichtsdestoweniger sehr heftig. Sie äußern sich in materieller und kultureller Ungleichheit, in staatlicher Unterdrückung, in politischen Gruppierungen und im Kampf der Parteifraktionen. Polizeiliche Bedrückung erstickt und verzerrt den politischen Kampf, schafft ihn aber nicht aus der Welt. Die verbotenen Ideen beeinflussen auf Schritt und Tritt die Politik der Regierung, sie befruchtend oder ihr entgegenwirkend. Unter diesen Umständen ist die Analyse der Entwicklung der Sowjetunion keine Minute lang zu trennen von der Konstellation der Ideen und Losungen, unter denen sich im Lande ein geknebelter, aber leidenschaftlicher politischer Kampf abspielt. Die Geschichte verschmilzt hier unmittelbar mit der lebendigen Politik.
Die wohlmeinenden „linken“ Philister betonen gern, bei Kritik an der Sowjetunion sei äußerste Behutsamkeit am Platze, damit der sozialistische Aufbau nicht Schaden leide. Wir unsererseits halten den Sowjetstaat durchaus nicht für so zart beschaffen. Die Feinde der UdSSR sind über ihn viel besser unterrichtet als seine wirklichen Freunde, d.h. die Arbeiter aller Länder. In den Generalstäben der imperialistischen Staaten wird genau Buch geführt über Aktiv und Passiv der Sowjetunion, und nicht nur auf Grund öffentlicher Berichte. Die Feinde können sich leider wohl die schwachen Seiten des Arbeiterstaates zunutze machen, keinesfalls aber von der Kritik an Tendenzen profitieren, die sie selbst für dessen positive Züge halten. Hinter dem feindseligen Verhalten der Mehrheit der offiziellen „Freunde“ gegen Kritik verbirgt sich in Wirklichkeit Angst nicht so sehr um die Zerbrechlichkeit der Union als um die Zerbrechlichkeit der eigenen Sympathien für sie. Gehen wir darum ruhig über diese Warnungen und Befürchtungen hinweg. Tatsachen entscheiden, nicht Illusionen. Wir wollen ein Antlitz zeigen, nicht eine Maske.
Leo Trotzki
September 1936 |
P.S. Dies Buch war bereits vor dem Moskauer „Terroristen“prozess abgeschlossen, welcher deshalb darin nicht mehr hat behandelt werden können. Um so bedeutsamer ist es zu betonen, dass diese Arbeit den „Terroristen“prozess im voraus erklärt und seine Mystik als Mystifikation entlarvt.
Quelle:
Marxist Internet Archive
Überarbeitete Version von Verratene Revolution, Lee, Antwerpen-Zürich-Prag 1936.
Ursprüngliche Übersetzung: Walter Steen, alias Rudolf Klement.
Neuausgabe: Veritas-Verlag, Zürich, 1957.
Der Text wurde verglichen mit dem text in Leo Trotzki, Schriften 1, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Bd.1.2, Hamburg 1988, S.687-1011.
Einige Zahlen wurden ohne weitere Bemerkung korrigiert.
Ursprüngliche Übersetzung: Walter Steen, alias Rudolf Klement.
Neuausgabe: Veritas-Verlag, Zürich, 1957.
Der Text wurde verglichen mit dem text in Leo Trotzki, Schriften 1, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Bd.1.2, Hamburg 1988, S.687-1011.
Einige Zahlen wurden ohne weitere Bemerkung korrigiert.
Quelle:
Marxist Internet Archive