VII. Familie, Jugend, Kultur


Thermidor in der Familie

Die Oktoberrevolution tat der Frau gegenüber ehrlich ihre Pflicht. Die junge Macht gab ihr nicht nur dieselben politischen und gesetzlichen Rechte wie dem Mann, sondern, was noch wichtiger ist, tat alles was sie konnte und jedenfalls unvergleichlich mehr als irgendein anderer Staat, um ihr wirklich zu allen Zweigen der Wirtschafts- und Kulturarbeit Zutritt zu verschaffen. Jedoch selbst die kühnste Revolution könnte ebenso wenig wie das „allmächtige“ britische Parlament die Frau in einen Mann verwandeln oder besser gesagt die Last der Schwangerschaft, des Gebärens, Säugens und der Kindererziehung zu gleichen Teilen zwischen beiden verteilen. Die Revolution machte einen heroischen Versuch, den sogenannten „Familienherd“ zu zerstören, d.h. jene archaische, muffige und starre Einrichtung, in der die Frau der werktätigen Klassen von der Kindheit bis zum Tode wahre Zwangsarbeit leisten muss. An die Stelle der Familie als geschlossenem Kleinbetrieb sollte, so war es gedacht, ein vollendetes System öffentlicher Pflegen und Dienste treten: Entbindungsanstalten, Krippen, Kindergärten, Schulen, öffentliche Speisehäuser, öffentliche Waschanstalten, Kliniken, Krankenhäuser, Sanatorien, Sportvereine, Kinos, Theater usw. Die völlige Aufsaugung der wirtschaftlichen Funktionen der Familie durch Einrichtungen der sozialistischen Gesellschaft, die die gesamte Generation in Solidarität und gegenseitigem Beistand eint, sollte der Frau und dadurch auch dem Ehepaar wirkliche Befreiung aus den tausendjährigen Fesseln bringen. Solange diese Aufgabe der Aufgaben nicht gelöst ist, bleiben 40 Millionen Sowjetfamilien in ihrer erdrückenden Mehrheit Brutstätten einer mittelalterlichen Daseinsweise, weiblicher Knechtschaft und Hysterie, täglicher Demütigung der Kinder, weiblichen und kindlichen Aberglaubens. Keinerlei Illusion kann in dieser Beziehung gestattet sein. Eben darum sind die aufeinandergefolgten Abänderungen an der Einstellung zur Familie in der UdSSR bezeichnend für das Wesen der Sowjetgesellschaft und die Evolution ihrer herrschenden Schicht.

Es ist nicht gelungen, die alte Familie im Sturm zu nehmen. Nicht weil es an gutem Willen gefehlt hätte. Auch nicht weil die Familie so fest in den Herzen wurzelte. Im Gegenteil, nach einer kurzen Periode des Misstrauens zum Staat, zu seinen Krippen, Kindergärten und ähnlichen Anstalten wussten die Arbeiterinnen und nach ihnen auch die fortgeschrittenen Bäuerinnen die unermesslichen Vorzüge der kollektiven Kinderpflege wie der Vergesellschaftung der gesamten Familienwirtschaft wohl zu schätzen. Leider erwies sich die Gesellschaft als zu arm und zu unkultiviert. Den Plänen und Absichten der kommunistischen Partei entsprachen die realen Mittel des Staates nicht. Man kann die Familie nicht „abschaffen“, man muss sie ersetzen, Eine wirkliche Befreiung der Frau ist auf dem Fundament der „verallgemeinerten Not“ nicht zu verwirklichen. Die Erfahrung veranschaulichte bald diese bittere Wahrheit, die Marx 80 Jahre zuvor formuliert hatte.

In den Hungerjahren ernährten sich die Arbeiter, zum Teil auch ihre Familien, überall wo sie konnten in Fabrik- und anderen Gemeinschaftsrestaurants, und diese Tatsache wurde offiziell als ein Übergang zu sozialistischen Lebensformen betrachtet. Es ist nicht erforderlich, nochmals bei den Besonderheiten der einzelnen Perioden zu verweilen: dem Kriegskommunismus, der NEP, dem ersten Fünfjahresplan. Tatsache ist, dass seit der Abschaffung des Kartensystems im Jahre 1935 alle besser gestellten Arbeiter an den häuslichen Tisch zurückzukehren begannen. Es wäre jedoch falsch, diesen Rückschritt als eine Verurteilung des sozialistischen Systems zu werten, das ja überhaupt noch nicht erprobt worden war. Ein um so vernichtenderes Urteil fällten die Arbeiter und ihre Frauen über die von der Bürokratie organisierte „gesellschaftliche Ernährung“. Denselben Schluss muss man auch auf die öffentlichen Waschanstalten ausdehnen, wo die Wäsche mehr gestohlen und verdorben als gewaschen wird. Zurück zum Familienherd! Aber Küche und Wäsche zu Hause, was heute von den Rednern und Journalisten halb verschämt gepriesen wird, bedeutet für die Arbeiterfrauen ein Zurück an die Töpfe und Tröge, d.h. zur alten Sklaverei. Die Resolution der Komintern über den „vollständigen und unwiderruflichen Sieg des Sozialismus in der UdSSR“ klingt kaum sehr überzeugend für die Hausfrauen der Vorstädte!

Die Bauernfamilie, die nicht nur durch die Haus-, sondern auch durch die Ackerwirtschaft gebunden ist, ist noch viel zäher und konservativer als die der Städter. Nur an Zahl kleine und in der Regel ungesunde landwirtschaftliche Gemeinden führten bei sich in der ersten Periode die Gemeinschaftsernährung und Krippen ein. Die Kollektivierung sollte, wie es anfangs hieß, eine entscheidende Umwälzung auch auf dem Gebiet der Familie bringen: nicht von ungefähr expropriierte man bei den Bauern nicht nur die Kühe, sondern auch die Hühner. An Meldungen über den Triumphzug der Gemeinschaftsernährung auf dem Lande war jedenfalls kein Mangel. Als aber der Rückzug begann, kam unter dem Schaum der Prahlerei sogleich die Wirklichkeit zum Vorschein. Vom Kolchos erhält der Bauer in der Regel nur Brot für sich und Futter fürs Vieh. Fleisch, Milchprodukte und Gemüse werden fast ausschließlich von der eigenen Parzelle bezogen. Wo aber die hauptsächlichen Lebensmittel durch die isolierten Arbeitsleistungen der Familie beschafft werden, kann von Gemeinschaftsernährung nicht die Rede sein. So laden die Zwergwirtschaften, die dem häuslichen Herd eine neue Grundlage geben, der Frau ein doppeltes Joch auf.

Die Zahl der 1932 in den Krippen verfügbaren ständigen Plätze war alles in allem 600.000; die der Saisonplätze, nur für die Zeit der Feldarbeiten, rund 4 Millionen. 1935 wurden rund 5,6 Millionen Krippenstellen gezählt, aber die ständigen Plätze bildeten wie bisher lediglich einen unbedeutenden Teil der Gesamtzahl. Außerdem werden die bestehenden Krippen selbst in Moskau, Leningrad und anderen Zentren in der Regel auch den bescheidensten Anforderungen nicht gerecht. „Krippen, wo das Kind sich unbehaglicher fühlt als zu Hause, sind keine Krippen, sondern ein schlechtes Asyl“, klagt eine führende Sowjetzeitung. Kein Wunder, wenn die besser gestellten Arbeiterfamilien die Krippen meiden. Für die Hauptmasse der Werktätigen ist aber auch die Zahl dieser „schlechten Asyle“ viel zu gering. In allerletzter Zeit erließ das Zentralexekutivkomitee eine Verfügung, dass Findlinge und Waisen Privaten zur Erziehung übergeben werden sollen: in der Person seines höchsten Organs gab der bürokratische Staat auf diese Weise sein Unvermögen in einer höchst wichtigen sozialistischen Funktion zu. Die von den Kindergärten erfasste Zahl der Kinder stieg in dem Jahrfünft 1930-1935 von 370.000 auf 1.181.000. Man erstaunt über die Winzigkeit der Zahl für 1930! Aber auch die Zahl für 1935 ist nur ein Tropfen im Meer der Sowjetfamilien. Eine eingehendere Untersuchung würde zweifelsohne den Nachweis erbringen, dass der größte und jedenfalls der beste Teil dieser Kindergärten auf die Familien der Verwaltungen, des technischen Personals, der Stachanowisten usw. entfällt.

Das Zentralexekutivkomitee war unlängst ebenfalls gezwungen, offen zu gestehen, dass „der Beschluss über die Liquidierung der Kinderverwahrlosung und -nichtbeaufsichtigung nur in geringem Maße verwirklicht wird“. Was verbirgt sich hinter diesem kühlen Geständnis? Nur zufällig erfahren wir aus in kleiner Schrift gedruckten Pressenotizen, dass sich in Moskau mehr als tausend Kinder „in außerordentlich schweren Familiendaseinsbedingungen“ befinden, dass es in den sogenannten Kinderheimen der Hauptstadt 1,500 Halbwüchsige gibt, die nirgendwo Zutritt haben und denen nur die Straße übrig bleibt, dass in zwei Herbstmonaten des Jahres 1935 in Moskau und Leningrad „7.500 Eltern, die ihre Kinder ohne Aufsicht gelassen hatten, zur Verantwortung gezogen wurden“. Von welchem Erfolg waren diese gerichtlichen Verfolgungen begleitet? Wie viel tausend Eltern entgingen diesem Schicksal? Wie viel Kinder, die sich in „außerordentlich schweren Bedingungen“ befinden, blieben unerfasst? Worin unterscheiden sich die außerordentlich schweren von den einfach schweren Bedingungen? Das sind Fragen, die ohne Antwort bleiben. Die gewaltigen Ausmaße der Kinderverwahrlosung, nicht nur der sichtbaren und offenen, sondern auch der verschleierten, sind ein unmittelbares Resultat der großen sozialen Krise, in der die alte Familie viel rascher weiterverfällt, als die neuen Einrichtungen imstande sind, sie zu ersetzen.

Aus denselben zufälligen Pressenotizen. aus den Episoden der Kriminalchronik kann der Leser von der Existenz der Prostitution in der UdSSR, erfahren, d.h. der tiefsten Degradierung der Frau im Interesse des zahlungsfähigen Mannes. Im Herbst vergangenen Jahres meldete die Iswestija beispielsweise überraschend aus Moskau die Verhaftung von „an die 1.000 Frauen, die sich auf den Straßen der proletarischen Hauptstadt heimlich verkauften“. Unter den Verhafteten waren: 177 Arbeiterinnen, 92 Angestellte, 5 Studentinnen usw. Was trieb sie aufs Trottoir? Unzureichende Entlohnung, Not, die Notwendigkeit „sich nebenher Kleider und Schuhe zu verdienen“. Vergebens versuchten wir auch nur annähernd den Umfang dieses sozialen Übels kennen zu lernen. Die züchtige Bürokratie befiehlt der Statistik Schweigen. Aber gerade das erzwungene Schweigen ist ein einwandfreies Zeugnis für den großen Umfang der „Klasse“ der Sowjetprostituierten. Hier kann es sich aus der Natur der Sache heraus nicht um „Überreste der Vergangenheit“ handeln: die Prostituierten rekrutieren sich aus der jungen Generation. Keinem vernünftigen Menschen wird es natürlich einfallen, diese Plage, die so alt ist wie die Zivilisation, dem Sowjetregime speziell zur Last zu legen. Doch unverzeihlich ist es, vom Triumph des Sozialismus zu reden, wo Prostitution besteht. Die Zeitungen behaupten zwar – soweit es ihnen überhaupt gestattet ist, dies heikle Thema anzurühren – dass „die Prostitution sich verringert“:

Möglich, dass dem wirklich so ist, im Vergleich mit den Jahren des Hungers und Zerfalls (1931-1933). Aber die danach erfolgte Wiederherstellung der Geldverhältnisse, die alle Naturalformen der Ernährung verdrängte, führte unvermeidlich zum Wiederaufleben der Prostitution und der Kinderverwahrlosung. Wo Privilegierte, sind auch Parias!

Die massenhafte Kinderverwahrlosung ist zweifellos das unfehlbarste und tragischste Zeichen für die schwere Lage der Mütter. In dieser Hinsicht ist selbst die optimistische Prawda gezwungen, zuweilen bittere Geständnisse zu machen. „Die Geburt eines Kindes ist für viele Frauen eine ernste Bedrohung ihrer Lage...“ Eben deshalb hatte die Revolutionsmacht der Frau das Recht auf Abtreibung gebracht, das, wo Not und Familienjoch bestehen, eines der bedeutendsten politischen und kulturellen Bürgerrechte ist, was darüber auch die Eunuchen und alten Jungfern beiderlei Geschlechts sagen mögen. Allein, auch dies an sich traurige Recht der Frau verwandelt sich bei faktischer sozialer Ungleichheit in ein Vorrecht. Vereinzelte in die Presse gedrungene Angaben über die Abtreibungspraxis sind wahrhaft erschütternd. So waren 1935 allein in einem einzigen Dorfkrankenhaus eines Bezirks im Ural „195 von den Engelmacherinnen verstümmelte Frauen“ gelegen, davon 33 Arbeiterinnen, 28 Angestellte, 65 Kolchosbäuerinnen. 58 Hausfrauen usw. Der Uralbezirk unterscheidet sich von den meisten anderen Bezirken nur dadurch, dass von ihm Kunde in die Presse drang. Wie viel Frauen werden tagtäglich auf dem gesamten Territorium der UdSSR verstümmelt?...

Nachdem der Staat seine Unfähigkeit bewiesen hatte, den Frauen, die zur Abtreibung Zuflucht nehmen mussten, die notwendige medizinische Hilfe und hygienischen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, änderte er jäh den Kurs und beschritt den Weg der Verbote. Wie auch bei anderen Gelegenheiten macht die Bürokratie aus der Not eine Tugend. Eines der Mitglieder des Obersten Sowjetgerichtshofs Solz, Spezialist in Ehefragen, begründet das bevorstehende Abtreibungsverbot damit, dass in der Sozialistischen Gesellschaft, wo es keine Arbeitslosigkeit gibt. usw. usf., die Frau kein Recht habe, auf die „Mutterschaftsfreuden“ zu verzichten. Philosophie eines Pfaffen, der zudem die Macht des Gendarmen ausübt! Soeben erst vernahmen wir aus dem Zentralorgan der regierenden Partei, dass die Geburt eines Kindes für viele Frauen – richtiger wäre zu sagen, für die erdrückende Mehrheit – eine „Bedrohung ihrer Lage“ ist. Soeben erst hörten wir aus dem Munde der höchsten Sowjetinstitution: „Die Liquidierung der Kinderverwahrlosung und -nichtbeaufsichtigung wird schwach verwirklicht“, was zweifellos ein neues Wachstum der Kinderverwahrlosung bedeutet. Und da kündigt uns ein hoher Sowjetrichter an, im Lande wo es „eine Lust ist zu leben“ müssten Abtreibungen mit Gefängnis bestraft werden, genau ebenso wie in den kapitalistischen Ländern, wo das Leben eine Trübsal ist. Es ist von vornherein klar, dass in der UdSSR ebenso wie im Westen hauptsächlich Arbeiterinnen Dienstbotinnen, Bäuerinnen dem Kerkermeister in die Fänge geraten werden, da es für sie schwer ist, ihren Zustand zu verbergen. Was „unsere Frauen“ betrifft, die es nach guten Parfums und anderen schönen Dingen verlangt, so werden sie nach wie vor tun, was ihnen beliebt vor der Nase einer wohlwollenden Justiz. „Wir brauchen Leute“, ergänzt sich Solz vor den Besprisornyje die Augen verschließend. „Dann gebt euch nur Mühe und macht selber welche“, möchten die Millionen werktätiger Frauen dem hohen Richter antworten, hätte die Bürokratie ihnen nicht den Mund versiegelt, Diese Herren haben offenbar vollends vergessen, dass der Sozialismus die Ursachen, welche die Frau zur Abtreibung treiben, beseitigen und nicht ihr durch gemeines Eingreifen der Polizei in ihr intimstes Leben „Mutterfreuden“ aufzwingen soll.

Der Gesetzentwurf über das Abtreibungsverbot wurde zur sogenannten Volksdiskussion gestellt. Selbst durch das feine Sieb der Sowjetpresse drangen nicht wenig bittere Klagen und verhaltene Proteste. Die Diskussion wurde ebenso plötzlich eingestellt, wie sie begonnen worden war. Am 27. Juni machte das Zentralexekutivkomitee aus dem unverschämten Gesetzentwurf ein dreifach unverschämtes Gesetz. Selbst unter den geschworenen Advokaten der Bürokratie geriet so manch einer in Verlegenheit. Louis Fischer erklärte diesen gesetzgebenden Akt für eine Art bedauerliches Missverständnis. In Wirklichkeit ist das neue Gesetz gegen die Frauen – mit Ausnahmen für die Damen – eine ganz gesetzmäßige Frucht der thermidorianischen Reaktion!

Die feierliche Rehabilitierung der Familie, die – welch ein Wunder der Vorsehung! – mit der Rehabilitierung des Rubels zusammenfiel, war durch ein materielles und kulturelles Versagen der Staates verursacht. Statt offen zu sagen: es zeigte sich, dass wir noch zu arm und zu roh sind, um sozialistische Beziehungen zwischen den Menschen zu schaffen, diese Aufgabe werden unsere Kinder und Enkel erfüllen, verlangen die Führer, nicht bloß die Scherben der zerbrochenen Familie wieder zusammenzuleimen, sondern sie auch, unter Androhung schlimmster Strafen, als geheiligte Urzelle des siegreichen Sozialismus zu betrachten. Schwerlich ist das Ausmaß dieses Rückzugs mit bloßem Auge zu ermessen!

Alles und alle werden in den neuen Kurs mitgerissen: Gesetzgeber und Belletristen, Richter und Milizionäre, Presse und Schule. Wenn ein naiver und aufrichtiger Jungkommunist sich erkühnt, an seine Zeitung zu schreiben: „Ihr tätet besser, euch mit der Lösung der Frage zu befassen, wie die Frau aus dem Schraubstock der Familie herauskommen soll“, so erhält er zur Antwort ein paar tüchtige Fausthiebe und – schweigt. Das ABC des Kommunismus wird für eine „ultralinke Abweichung“ erklärt. Die stumpfsinnigen und beschränkten Vorurteile des kulturarmen Spießertums erstehen wieder auf im Namen der neuen Moral. Und was geht im Alltagsleben in allen Ecken und Winkeln des unermesslichen Landes vor? Die Presse gibt nur in ganz winzigem Maße ein Bild von der Tiefe der thermidorianischen Reaktion auf dem Gebiet der Familie.

Da die edle Leidenschaft der Prediger zusammen mit den Lastern wächst, erlangt das siebente Gebot große Popularität in der herrschenden Schicht. Die Sowjetmoralisten brauchen die Phraseologie nur leicht aufzufrischen. Ein Feldzug hat begonnen gegen die allzu häufigen und leichten Scheidungen, Das schöpferische Denken des Gesetzgebers ersann bereits eine so „sozialistische“ Maßnahme wie die Erhebung einer Gebühr bei der Eintragung einer Scheidung, mit Zuschlägen im Wiederholungsfall. Nicht umsonst wiesen wir weiter oben darauf hin, dass die Wiedergeburt der Familie Hand in Hand geht mit einer Steigerung der erzieherischen Rolle des Rubels. Die Steuer erschwert zweifellos die Eintragung für alle, denen das Zahlen schwer fällt. Für die Spitzen bildet die Gebühr ja hoffentlich kein Hindernis. Außerdem regeln Leute, die gute Wohnungen, Automobile und andere schöne Sachen besitzen, ihre persönlichen Angelegenheiten ohne überflüssige Bekanntmachungen und folglich auch ohne Eintragungen. Ist ja die Prostitution nur am Bodensatz der Gesellschaft Bürde und Erniedrigung – an den Spitzen der Sowjetgesellschaft, wo Macht sich mit Komfort paart, nimmt die Prostitution die elegante Form kleiner gegenseitiger Gefälligkeiten und selbst die Gestalt der „sozialistischen Familie“ an. Von Sosnowski erfuhren wir bereits die Bedeutung des „Auto-Harem-Faktors“ in der Entartung der herrschenden Schicht.

Die lyrischen, akademischen und anderen „Freunde der Sowjetunion“ haben Augen, um nichts zu sehen. Unterdessen wird die Ehe- und Familiengesetzgebung der Oktoberrevolution, auf die man einst mit Fug und Recht stolz war, auf dem Wege umfassender Anleihen aus dem Gesetzesarsenal der bürgerlichen Länder umgestaltet und verkrüppelt. Wie um den Verrat noch den Stempel des Hohns aufzudrücken werden dieselben Argumente, die früher für die unbedingte Scheidungs- und Abtreibungsfreiheit ins Feld geführt wurden – „Befreiung der Frau“, „Verteidigung der Persönlichkeitsrechte“, „Schutz der Mutterschaft“ – heute für ihre Einschränkung oder völlige Aufhebung wiederholt.

Der Rückzug kleidet sich nicht nur in abscheuliche Heuchelei, sondern geht im Grunde viel weiter, als die eiserne Notwendigkeit der Wirtschaft es erfordert. Zu objektiven Ursachen, die durch die Rückkehr zu bürgerlichen Normen wie der Zahlung von Alimenten hervorgerufen sind, gesellt sich das soziale Interesse der herrschenden Schicht an der Ausweitung des bürgerlichen Rechts. Das gebieterischste Motiv für den heutigen Familienkult ist zweifelsohne das Bedürfnis der Bürokratie nach einer stabilen Hierarchie der gesellschaftlichen Beziehungen und nach der Disziplinierung der Jugend durch 40 Millionen Stützpunkte der Autorität und der Macht.

Als die Hoffnung noch lebendig war, die Erziehung der jungen Generationen dem Staat in die Hand zu geben, kümmerte sich die Macht nicht nur nicht darum, die Macht der „Alten“, insbesondere von Vater und Mutter, aufrechtzuerhalten, sondern trachtete im Gegenteil danach, die Kinder so viel wie möglich von der Familie zu trennen, um sie so vor den Traditionen der althergebrachten Lebensart zu bewahren. Noch ganz vor kurzem, während des ersten Fünfjahresplans, bedienten sich Schule und Komsomol weitgehend der Kinder, um den trunksüchtigen Vater oder die religiöse Mutter zu entlarven, zu beschämen, überhaupt „umzuerziehen“; mit welchem Erfolg, ist eine Frage für sich. Jedenfalls bedeutete diese Methode, die elterliche Autorität in ihren Grundfesten zu erschüttern. Heute ist auch auf diesem nicht unwichtigen Gebiet ein jäher Wechsel eingetreten: neben dem siebenten ist auch das fünfte Gebot wieder vollständig in seine Rechte eingesetzt, allerdings noch ohne Berufung auf Gott; aber auch die französische Schule kommt ohne dies Attribut aus, was sie nicht hindert, mit Erfolg Konservatismus und Routine zu züchten.

Die Sorge um die Autorität der Erwachsenen führte übrigens bereits auch zu einer Änderung in der Religionspolitik. Die Leugnung Gottes, seiner Gehilfen und seiner Wunder war von allen Keilen, welche die revolutionäre Macht zwischen Kinder und Eltern trieb, der spitzeste. Der Kampf gegen die Kirche überholte das Wachstum der Kultur, der ernsten Propaganda und wissenschaftlichen Erziehung und artete unter der Leitung von Leuten wie Jaroslawski oft in Mummenschanz und Unfug aus. Heute ist es mit der Himmelsstürmerei ebenso wie mit der Familienstürmerei vorbei. Besorgt um die Reputation ihrer Tüchtigkeit, wies die Bürokratie die jungen Gottlosen an, das Waffengeschirr abzulegen und sich hinter die Bücher zu setzen. In bezug auf die Religion greift allmählich ein Regime ironischer Neutralität Platz. Doch das ist nur eine erste Etappe. Die zweite und die dritte wären unschwer vorherzusehen, wenn der Gang der Ereignisse nur von der obersten Gewalt abhinge.

Die Heuchelei der herrschenden Anschauungen entwickelt sich stets und überall im Quadrat oder in der dritten Potenz zu den sozialen Widersprüchen; so ungefähr lautet das historische Gesetz der Ideologien, übersetzt in die Sprache der Mathematik. Sozialismus, wenn er überhaupt diesen Namen verdient, bedeutet: menschliche Beziehungen ohne Gewinnsucht, Freundschaft ohne Neid und Intrigen, Liebe ohne niedrige Berechnung. Die offizielle Doktrin erklärt diese Idealnormen um so nachdrücklicher für bereits verwirklicht, je lauter die Wirklichkeit gegen diese Behauptungen protestiert. „Auf der Grundlage der tatsächlichen Gleichheit von Mann und Frau“, sagt zum Beispiel das neue Komsomolprogramm, das im April 1936 angenommen wurde, „bildet sich die neue Familie, um deren Blühen der Sowjetstaat bemüht ist“. Ein offizieller Kommentar ergänzt das Programm „Unsere Jugend kennt bei der Wahl des Lebensgefährten – Mann oder Frau – nur ein Motiv, einen Trieb: die Liebe. Die bürgerliche Interessen- oder Geldheirat existiert für unsere heranwachsende Generation nicht“. (Prawda, 4. April 1936). Soweit von einfachen Arbeitern und Arbeiterinnen die Rede ist, ist dies mehr oder weniger wahr. Aber die „Interessenheirat“ ist auch bei den Arbeitern der kapitalistischen Länder verhältnismäßig wenig im Brauch. Ganz anders steht die Sache bei den mittleren und höheren Schichten. Die neuen sozialen Gruppierungen unterwerfen sich automatisch das Gebiet der persönlichen Beziehungen. Die Laster, die von Macht und Geld um die sexuellen Beziehungen geschaffen werden, blühen in den Kreisen der Sowjetbürokratie so üppig, als hätte sie sich in dieser Hinsicht zum Ziel gesetzt, die Bourgeoisie des Westens zu überholen.

Ganz im Widerspruch zu der soeben zitierten Behauptung der Prawda ist die „Interessenheirat“, wie die Sowjetpresse selber in Stunden zufälliger oder erzwungener Offenheit es zugibt, heute im vollen Umfange wiedererstanden. Befähigung, Verdienst, Stellung, Zahl der Tressen an der Militäruniform erlangen immer größere Bedeutung, denn damit verbunden sind Fragen wie Schuhe, Pelz, Wohnung, Badezimmer und höchster aller Träume – das Auto. Einzig und allein der Kampf ums Zimmer vereint und trennt täglich in Moskau keine geringe Anzahl Paare. Zu außerordentlicher Bedeutung gelangte die Verwandtenfrage: es ist nützlich, einen Militärkommandeur oder einflussreichen Kommunisten zum Schwiegervater oder die Schwester eines hohen Beamten zur Schwiegermutter zu haben. Soll man sich darüber wundern? Könnte dem anders sein?

Ein sehr dramatisches Kapitel im großen Sowjetbuch bildet die Erzählung von der Zwietracht und dem Zerfall der Sowjetfamilien, wo der Mann als Parteimensch, Gewerkschaftler, Militärkommandeur oder Verwalter emporstieg. sich entwickelte, neuen Geschmack am Leben fand, die von der Familie unterdrückte Frau aber auf dem alten Niveau blieb. Der Weg zweier Generationen der Sowjetbürokratie ist mit Tragödien zurückbleibender und verstoßener Frauen besät! Dieselbe Erscheinung ist heute in der jungen Generation zu beobachten. Die größte Rohheit und Grausamkeit ist wohl gerade an den Spitzen der Bürokratie anzutreffen, wo ein hoher Prozentsatz aus unkultivierten Emporkömmlingen besteht, die meinen, ihnen sei alles erlaubt. Die Archive und Memoiren werden einmal zu Tage fördern, welch geradezu kriminelle Verbrechen an den Ehefrauen und Frauen überhaupt begangen wurden von Seiten der gerichtlich nicht belangbaren Priester der Familienmoral und der obligatorischen „Mutterfreuden“.

Nein, die Sowjetfrau ist noch nicht frei, Die völlige Gleichberechtigung brachte bisher unvergleichlich größere Vorteile für die Frauen der oberen Schichten, die Vertreterinnen der bürokratischen, technischen, pädagogischen, überhaupt geistigen Arbeit, als für die Arbeiterinnen und besonders die Bäuerinnen. Solange die Gesellschaft nicht imstande ist, die materiellen Familiensorgen zu übernehmen, kann eine Mutter nur dann mit Erfolg eine gesellschaftliche Funktion ausüben, wenn ihr eine weiße Sklavin zu Diensten steht – als Kinderwärterin, Dienstmädchen, Köchin usw. Von 40 Millionen Familien, die die Bevölkerung der Sowjetunion bilden, gründen 5%, vielleicht auch 10% ihren „Herd“ direkt oder indirekt auf die Arbeit von Haussklavinnen und -sklaven. Die genaue Anzahl der Sowjetdienstboten wäre von nicht geringerer Bedeutung für eine sozialistische Beurteilung der Lage der Frauen in der UdSSR als die gesamte Sowjetgesetzgebung, so fortschrittlich sie auch sein mag. Aber eben deshalb versteckt die Statistik die Dienstboden in der Rubrik „Arbeiterinnen“ oder „Diverse“!

Die Lage einer Familienmutter, die eine geachtete Kommunistin ist, ihre Köchin hat, Bestellungen in den Kaufläden per Telefon erledigt, Auto fährt usw., hat wenig mit der Lage einer Arbeiterin gemein, die von Laden zu Laden laufen, selbst die Mahlzeiten zubereiten, die Kinder zu Fuß aus dem Kindergarten abholen muss – wenn überhaupt einer da ist. Keine sozialistischen Etiketten können diesen sozialen Kontrast verdecken der nicht geringer ist als der Kontrast zwischen einer bürgerlichen Dame und der Proletarierin in einem beliebigen Lande des Westens.

Die wirklich sozialistische Familie, der die Gesellschaft die Last der unerträglichen und erniedrigenden Alltagssorgen abnimmt, wird keiner Reglementierung bedürfen, und die bloße Vorstellung von Abtreibungs- oder Scheidungsgesetzen wird ihr nicht schöner erscheinen als die Erinnerung an Freudenhäuser oder Menschenopfer. Die Oktobergesetzgebung tat einen kühnen Schritt zu einer solchen Familie hin. Wirtschaftliche und kulturelle Zurückgebliebenheit erzeugten eine heftige Reaktion. Die thermidorianische Gesetzgebung geht zu den bürgerlichen Vorbildern zurück und verhüllt ihren Rückzug mit falschen Reden über die Heiligkeit der „neuen“ Familie. Das Versagen des Sozialismus verbirgt sich auch in dieser Frage hinter frömmelnder Respektabilität.

Es gibt aufrichtige Beobachter, die, besonders in der Frage der Kinder, erschüttert sind von dem Widerspruch zwischen den hohen Prinzipien und der hässlichen Wirklichkeit. Allein, eine Tatsache wie die grausamen Kriminalstrafen gegen verwahrloste Kinder kann einen denken lassen, dass die sozialistische Gesetzgebung zum Schutze der Frau und des Kindes nichts weiter ist als eine einzige Heuchelei. Es gibt den umgekehrten Typ von Beobachtern, die sich von der Weite und Großzügigkeit der Absicht bestechen lassen, wie sie in den Gesetzen und Verwaltungsorganen sich äußert; beim Anblick der mit dem Elend ringenden Mütter, Prostituierten und Besprisornyje sagen sich diese Optimisten, dass das weitere Wachsen des materiellen Reichtums allmählich den sozialistischen Gesetzen Fleisch und Blut verleihen wird. Es ist nicht leicht zu entscheiden, welche von diesen beiden Denkweisen falscher und schädlicher ist. Die Weite und Kühnheit des sozialen Plans die Bedeutsamkeit der ersten Etappen seiner Erfüllung und der eröffneten gewaltigen Möglichkeiten können nur Leute übersehen, die mit historischer Blindheit geschlagen sind. Doch andererseits kann man auch nicht umhin, sich über den passiven, im Grunde gleichgültigen Optimismus derer zu empören, die die Augen vor dem Wachsen der sozialen Widersprüche verschließen und sich mit Ausblicken auf eine Zukunft vertrösten, deren Schlüssel sie ehrerbietig in den Händen der Bürokratie zu belassen vorschlagen. Als ob die Rechtsgleichheit von Mann und Frau nicht bereits zur Gleichheit ihrer Rechtlosigkeit vor der Bürokratie geworden wäre! Und als ob es ein für allemal feststünde, dass die Sowjetbürokratie statt der Befreiung nicht auch ein neues Joch bringen könne.

Wie der Mann die Frau versklavte, wie der Ausbeuter sie sich alle beide unterwarf, wie die Werktätigen sich um den Preis ihres Bluts aus der Sklaverei zu befreien versuchten und nur ihre Ketten gegen andere vertauschten – von all dem weiß die Geschichte uns viel zu erzählen; ja im Grunde erzählt sie gar nichts anderes. Wie aber tatsächlich das Kind, die Frau, der Mensch befreit werden, davon gibt es noch keine positiven Beispiele. Die gesamte, durch und durch negative historische Vergangenheit fordert von den Werktätigen vor allen Dingen unversöhnliches Misstrauen gegen ihre privilegierten und unkontrollierten Vormünder!

Kampf gegen die Jugend

Jede revolutionäre Partei findet ihre Stütze vor allem in der jungen Generation der aufsteigenden Klasse. Politische Altersschwäche äußert sich im Verlust der Fähigkeit, die Jugend um das eigene Banner zu scharen. Gewöhnlich sind die von der Szene abtretenden Parteien der bürgerlichen Demokratie gezwungen, entweder der Jugend der Revolution oder der des Faschismus zu weichen. Der Bolschewismus war in der Illegalität stets eine Partei von jungen Arbeitern. Die Menschewiki stützten sich auf die solideren Facharbeiter, die Oberschicht des Proletariats, brüsteten sich sehr damit und blickten auf die Bolschewiki von oben herab. Die späteren Ereignisse zeigten ihnen unbarmherzig ihren Fehler: im entscheidenden Augenblick riss die Jugend die reiferen Schichten und sogar die Alten mit sich.

Die revolutionäre Umwälzung gab den neuen Sowjetgenerationen einen grandiosen historischen Antrieb, riss sie mit einem Schlage aus den konservativen Daseinsformen heraus und offenbarte ihnen das große Geheimnis – das oberste Geheimnis der Dialektik – dass nichts auf der Welt unveränderlich ist und die Gesellschaft sich aus plastischen Materialien formt. Wie dumm ist doch im Lichte der Ereignisse unserer Epoche die Theorie von den unveränderlichen Rassentypen! Die Sowjetunion stellt einen grandiosen Tiegel dar, in dem der Charakter dutzender Völkerschaften umgeschmolzen wird. Die Mystik der „slawischen Seele“ scheidet wie Schlacke ab.
Doch der Antrieb, den die jungen Generationen erhielten, hat noch keine Auswirkung in einem entsprechenden historischen Werk gefunden. Freilich ist die Jugend sehr regsam auf dem Gebiet der Wirtschaft. In der UdSSR zählen die Arbeiter im Alter bis zu 23 Jahren sieben Millionen: 3.140.000 in der Industrie, 700.000 in den Eisenbahnen, 700.000 im Bauwesen. In den neuen Fabrikgiganten bilden die jungen Arbeiter rund die Hälfte der Belegschaft. In den Kolchosen arbeiten heute allein schon 1.200.000 Jungkommunisten. Hunderttausende von Komsomolmitgliedern wurden in den letzten Jahren im Bauwesen, in der Holzfällerei, in den Kohlenschächten, der Goldindustrie, zu Arbeiten in den arktischen Regionen, auf Sachalin oder am Amur mobilisiert; dort am Amur entsteht eine neue Stadt mit Namen Komsomolsk. Die junge Generation stellt die Stoßbrigadisten, die sich besonders auszeichnenden Arbeiter, die Stachanowisten, Werkmeister, unteren Verwalter Die Jugend lernt, und ein bedeutender Teil mit Fleiß, Nicht minder regsam, eher noch mehr, ist sie auf dem Gebiet des Sports. in seinen waghalsigsten Formen wie dem Fallschirmspringen, oder den kriegerischsten wie dem Schießen. Die Unternehmungslustigen und Verwegenen begeben sich auf allerlei gefahrvolle Expeditionen.

„Der beste Teil unsere Jugend“, sagte kürzlich der bekannte Polarforscher Schmidt, „will dort arbeiten, wo ihn Schwierigkeiten erwarten“. So ist es ohne Zweifel auch. Aber auf allen Gebieten bleiben die nachrevolutionären Generationen noch unter Vormundschaft. Was sie und wie sie es zu tun haben, wird ihnen von oben her zugewiesen, Die Politik als höchste Kommandoform bleibt gänzlich in den Händen der sogenannten „alten Garde“. Und bei allen heißen oft schmeichelnden Aussprachen an die Jugend wachen die Alten scharf über ihr Monopol.

Engels, der sich die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft nicht ohne Absterben des Staates dachte, d.h. ohne Ersetzung aller Art Polizeiherrschaft durch die Selbstverwaltung der kultivierten Erzeuger und Verbraucher, teilte die Vollendung dieser Aufgabe der jungen Generation zu, „die in neuen, freien gesellschaftlichen Bedingungen aufwächst und in der Lage ist, den ganzen Staatsplunder ganz fortzuwerfen.“ Lenin fügt selbst hinzu: „jedes Staatswesen abzuschaffen, auch das demokratisch-republikanische...“ Folgendermaßen etwa zeichnete sich in Engels und Lenins Bewusstsein die Perspektive des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft: die Generation, die die Macht eroberte, die „alte Garde“, beginnt das Werk der Liquidierung des Staats, die nächste Generation vollendet es.

Wie steht es in Wirklichkeit? 43% der Bevölkerung der UdSSR sind nach der Oktoberumwälzung geboren. Nimmt man eine Altersgrenze von 23 Jahren, so ergibt sich, dass über 50% der Sowjetbürger sie nicht erreichen. Die größere Hälfte der Landesbevölkerung kennt folglich aus persönlicher Erinnerung kein anderes Regime als das der Sowjets. Aber diese neuen Generationen formen sich eben nicht in „freien gesellschaftlichen Bedingungen“, wie Engels es sich vorstellte, sondern unter dem unerträglichen und ständig wachsenden Druck der herrschenden Schicht, derselben, die der offiziellen Fiktion gemäß die große Umwälzung vollbrachte. In der Fabrik, im Kolchos, in der Kaserne, in der Universität, in der Schule, selbst im Kindergarten wenn nicht gar in den Krippen gilt als Haupttugend des Menschen Führertreue und unbedingter Gehorsam. Viele der pädagogischen Aphorismen und Vorschriften der letzten Zeit könnten von Goebbels geschrieben sein, wenn dieser sie nicht selbst in hohem Maße bei Stalins Mitarbeitern abgeschrieben hätte.

Die Schule und das gesellige Leben der Schüler sind ganz und gar von Formalismus und Heuchelei durchdrungen. Die Kinder haben gelernt, unzählige sterbenslangweilige Versammlungen zu veranstalten mit dem unvermeidlichen Ehrenpräsidium, mit Lobpreisungen der teuren Führer und den vorher auswendig gelernten, rechtgläubigen Debatten, bei denen man ganz wie die Erwachsenen eines sagt und etwas anderes dabei denkt. Die unschuldigsten Schülerzirkel, die versuchen, in der Wüste des Amtsgeistes sich eine Oase zu schaffen, werden wütend unterdrückt, Durch ihre Agentur träufelt die GPU in die sogenannte „sozialistische“ Schule das entsetzliche Gift der Petzerei und Verräterei ein. Die nachdenklichsten Pädagogen und KinderschriftsteIler können zuweilen trotz erzwungenem Optimismus angesichts dieses, das Schulmilieu ertötenden Geistes des Zwangs, der Falschheit und der Langeweile ihr Entsetzen nicht verbergen.

Da die jungen Generationen in ihrer Vergangenheit keine Klassenkampf- und Revolutionserfahrungen aufzuweisen haben, könnten sie zu selbständiger Teilnahme am Gesellschaftsleben des Landes nur inmitten einer Sowjetdemokratie, nur bei bewusster Verarbeitung der Erfahrung der Vergangenheit und der Lehren der Gegenwart heranreifen. Selbständige Charaktere und selbständiges Denken können sich ohne Kritik nicht entfalten. Indes ist der Sowjetjugend rundweg die elementarste Möglichkeit versagt, Gedanken auszutauschen, sich zu irren, eigene und fremde Fehler zu prüfen und zu verbessern. Alle Fragen einschließlich die sie selbst betreffenden, werden ohne sie entschieden. Sie hat nur auszuführen und lobzusingen. Auf jedes Wort der Kritik antwortet die Bürokratie mit Halsumdrehen. Alles irgendwie Hervorragende und Unbotmäßige unter der Jugend wird systematisch ausgemerzt, unterdrückt oder physisch vernichtet. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, dass die Millionen und Abermillionen Jungkommunisten nicht eine einzige größere Gestalt hervorbrachten.

Die Jugend wirft sich auf Technik, Wissenschaft, Literatur, Sport oder Schachspiel und verdient sich so gleichsam die Sporen für kommende große Dinge. Auf all diesen Gebieten wetteifert sie mit der schlecht vorbereiteten alten Generation, hie und da sie ein- und überholend. Aber bei jeder Berührung mit der Politik verbrennt sie sich die Finger. Ihr bleiben somit drei Möglichkeiten: sich der Bürokratie einverleiben und Karriere machen: schweigend sich unter das Joch bücken und in der Wirtschaft, der Wissenschaft oder den kleinen Privatangelegenheiten aufgehen; schließlich in die Illegalität tauchen, um für die Zukunft kämpfen zu lernen und sich zu stählen. Der Weg der bürokratischen Karriere steht nur einer kleinen Minderheit offen. Am anderen Pol tritt eine kleine Minderheit in die Reihen der Opposition. Die mittlere Gruppe, d.h. die überwiegende Masse, ist ihrerseits äußerst ungleichartig. Unter der eisernen Presse spielen sich, wenn auch verborgene, so doch allerhöchstbedeutsame Prozesse ab, die in vielem für die Zukunft der Sowjetunion bestimmend sein werden.

Die asketischen Tendenzen der Bürgerkriegsepoche machten während der NEP epikureischeren, um nicht zu sagen genusssüchtigeren Stimmungen Platz. Der erste Fünfjahresplan wurde wieder eine Zeit des unfreiwilligen Asketismus, doch allein für die Massen und die Jugend: die herrschende Schicht hatte sich auf ihren Positionen persönlichen Wohlstands festzuschanzen vermocht. Der zweite Fünfjahresplan ist unbezweifelbar von einer scharfen Reaktion gegen den Asketismus gefärbt. Die Sorge um das eigene Gedeihen ergreift breite Bevölkerungsschichten, besonders die Jugend. Tatsache ist jedoch, dass auch in der jungen Sowjetgeneration Auskommen und Wohlstand nur für die dünne Schicht erreichbar sind, die sich über die Masse zu erheben vermag und sich so oder so der herrschenden Schicht einverleibt. Andererseits züchtet und siebt die Bürokratie bewusst die Apparatmenschen und Karrieristen.

„Der Sowjetjugend“, versicherte auf dem Komsomolkongress (April 1936) der Hauptberichterstatter, „sind Gewinndurst, spießige Beschränktheit, niedriger Egoismus unbekannt“. Diese Worte tönen wie eine Dissonanz neben der heute herrschenden Losung vom „behaglichen und schönen Leben“, neben den Akkordmethoden, Prämien und Orden. Der Sozialismus ist nicht asketisch, im Gegenteil dem Asketismus des Christentums wie überhaupt jeglicher Religion zutiefst feind, und nur dieser Welt, nur ihr allein zugetan. Aber der Sozialismus hat seine eigene Skala der irdischen Werte. Die menschliche Persönlichkeit beginnt für ihn nicht mit der Sorge um ein behagliches Dasein, sondern im Gegenteil beim Wegfall dieser Sorge. Jedoch noch keiner Generation war es gegeben, über ihren eigenen Kopf hinwegzuspringen. Die ganze Stachanowbewegung baut sich bislang auf den „niedrigen Egoismus“. Der Erfolgsmaßstab selbst: die Anzahl der verdienten Hosen und Krawatten, zeugt just von „spießiger Beschränktheit“. Mag sogar dies Stadium historisch unvermeidlich sein, doch muss man es sehen, wie es ist. Die Wiederherstellung der Marktverhältnisse ermöglicht ohne Zweifel eine bedeutende Steigerung des persönlichen Wohlstands. Dass die Sowjetjugend so sehr erpicht ist, Ingenieur zu werden, erklärt sich nicht so sehr aus der Verlockung des sozialistischen Aufbaus, als dadurch, dass Ingenieure viel mehr verdienen als Ärzte oder Lehrer. Wo sich derartige Tendenzen herausbilden inmitten geistiger Bedrückung und ideologischer Reaktion, bei bewusster Entfesselung der Streberinstinkte von oben her, da läuft durch die Bank die Anpflanzung „sozialistischer Kultur“ auf eine Erziehung im Geiste des extremsten antisozialen Egoismus hinaus.

Und dennoch wäre es eine grobe Verleumdung der Jugend, sie als ausschließlich oder auch nur vorwiegend durch persönliche Interessen beherrscht darzustellen. Nein, in ihrer Masse ist sie großzügig, empfänglich, unternehmungslustig. Karrierismus färbt nur ihre Oberfläche. In der Tiefe sind verschiedenartige, noch längst nicht ausgestaltete Tendenzen lebendig, auf einem Untergrund von Heroismus, der erst noch nach Verwendung sucht. Aus diesen Stimmungen nährt sich im besonderen der ganz neue Sowjetpatriotismus. Er ist zweifellos sehr tief, aufrichtig und dynamisch. Aber auch durch den Patriotismus zieht sich ein Riss, der die Jungen von den Alten trennt.

Für die jungen gesunden Lungen ist es unerträglich, die Luft der Heuchelei zu atmen, welche vom Thermidor, d.h. von der Reaktion, die sich noch mit dem Gewand der Revolution zu schmücken gezwungen ist, nicht zu trennen ist. Das schreiende Missverhältnis zwischen den sozialistischen Plakaten und dem wirklichen Leben untergräbt das Vertrauen in die offiziellen Glaubensgrundsätze. Erhebliche Schichten von Jugendlichen tragen Geringschätzung gegenüber der Politik, Grobheit und Liederlichkeit zur Schau. In vielen, wahrscheinlich den meisten Fällen sind Gleichgültigkeit und Zynismus eine primitive Form von Unzufriedenheit und des geheimen Wunsches, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Ausschlüsse aus dem Komsomol und der Partei, Verhaftungen und Verbannungen von Hunderttausenden jungen „Weißgardisten“ und „Opportunisten“ einerseits, „Bolschewiki-Leninisten“ andererseits, zeugen davon, dass die Quellen der bewussten politischen Opposition, der rechten wie der linken, nicht versiegen; im Gegenteil, in den letzten ein, zwei Jahren sprudelten sie mit neuer Kraft. Schließlich die Ungeduldigsten, Hitzigsten, Unausgeglichensten, in ihren Interessen oder Gefühlen Verletztesten sinnen auf terroristische Rache. Das etwa ist das Spektrum der politischen Stimmungen der Sowjetjugend.

Die Geschichte des individuellen Terrors in der UdSSR bezeichnet deutlich die Etappen der allgemeinen Entwicklung des Landes. In der Frühzeit der Sowjetmacht wurden terroristische Attentate von Weißen oder Sozialrevolutionären verübt, in der Atmosphäre des noch nicht beendeten Bürgerkriegs. Als die ehemals herrschenden Klassen die Hoffnung auf eine Restauration verloren hatten, verschwand auch der Terrorismus. Der Kulakenterror, dessen Nachklänge bis in die letzte Zeit hinein zu beobachten waren, war stets lokaler Natur und ergänzte den Partisanenkrieg gegen das Sowjetregime. Was den Terrorismus der jüngsten Zeit betrifft, so stützt er sich weder auf die alten herrschenden Klassen noch auf den Kulaken. Die Terroristen des letzten Aufgebots rekrutieren sich ausschließlich aus der Sowjetjugend, aus den Reihen des Komsomol und der Partei, oft sogar aus den Sprösslingen der herrschenden Schicht. Völlig außerstande, die Aufgaben zu lösen, die er sich selbst stellt, ist der individuelle Terror doch von überaus symptomatischer Bedeutung und bezeichnend für die Schärfe des Gegensatzes zwischen der Bürokratie und den breiten Volksmassen, insbesondere der Jugend.

Alles zusammen: wirtschaftliches Draufgängertum, Fallschirmsport, Polarexpeditionen, betonte Gleichgültigkeit, „Rowdytum“, terroristische Stimmungen und vereinzelte Terrorakte, bereitet eine Explosion der jungen Generation gegen die unerträgliche Vormundschaft der Alten vor. Der Krieg könnte gewiss den angesammelten Dämpfen der Unzufriedenheit zum Ventil dienen. Aber nicht lange. Die Jugend würde in kurzer Frist die nötige Kampftüchtigkeit und die ihr heute so mangelnde Autorität erlangen. Zugleich damit würde die Reputation der meisten „Alten“ nicht wieder gutzumachenden Schaden nehmen. Bestenfalls würde der Krieg der Bürokratie lediglich kurzen Aufschub gewähren; um so schärfer wird der politische Konflikt bei Kriegsende ausbrechen.

Es wäre natürlich zu einseitig, das politische Grundproblem der UdSSR auf das Generationenproblem zurückzuführen. Unter den Alten zählt die Bürokratie nicht wenig erklärte oder heimliche Gegner, wie es auch unter der Jugend Hunderttausende ausgemachter Bürokraten gibt. Doch gleich von welcher Seite die Attacke auf die Positionen der herrschenden Schicht kommen wird, von links oder rechts, die Angreifer werden ihre Hauptstreitkräfte unter der bedrückten, politisch rechtlosen und unzufriedenen Jugend anwerben. Die Bürokratie versteht das ausgezeichnet. Sie besitzt überhaupt eine feine Empfindungsgabe für alles, was ihre Herrscherstellung gefährden kann. Natürlich bemüht sie sich, zur rechten Zeit ihre Positionen zu festigen. Ihre Hauptschützengräben und Betonbefestigungen errichtet sie dabei eben gegen die junge Generation.

Im April 1936 tagte im Kreml wie bereits erwähnt der 10. Komsomolkongress. Niemand gab sich natürlich die Mühe zu erklären, warum entgegen den Statuten der Kongress volle fünf Jahre nicht einberufen worden war. Dafür stellte sich bald heraus, dass der sorgfältig ausgelesene und gesiebte Kongress diesmal ausschließlich tagte, um die Jugend politisch zu enteignen: nach dem neuen Statut ist der Komsomol sogar gesetzlich des Rechts beraubt, am Gesellschaftsleben des Landes teilzunehmen. Seine einzige Sphäre ist nunmehr: Aufklärung und kulturelle Erziehung. Der Generalsekretär des Komsomol erklärte im Auftrag von oben in seinem Bericht: „Wir müssen aufhören mit dem Geschwätzals ob wir darüber entscheiden würden“. Das ganze Land könnte die letzten Worte nachsprechen: „Als ob wir darüber entschieden!“ Der freche Verweis: „Mit dem Geschwätz aufhören!“, der bei dem stramm gehorsamen Kongress gar keine Begeisterung auslöste, scheint um so verblüffender, als das Sowjetgesetz die politische Mündigkeit auf das 18. Lebensjahr festgesetzt hat, von welchem Alter an junge Männer und Frauen volles Wahlrecht haben, während die Altersgrenze beim Komsomol dem alten Statut gemäß 23 Jahre war, wobei faktisch ein ganzes Drittel der Organisationsmitglieder diese Grenze überschritten hatte. Der letzte Kongress nahm gleichzeitig zwei Reformen vor; er legalisierte die Beteiligung der alten Jahrgänge am Komsomol und erhöhte damit die Zahl der KomsomolwähIer, und nahm zugleich der gesamten Organisation das Recht, sich nicht nur in das Gebiet der allgemeinen Politik (davon kann schon gar keine Rede sein!), sondern auch in die laufenden Wirtschaftsfragen einzumischen. Die Aufhebung der früheren Altersgrenze war dadurch diktiert, dass der Übergang aus dein Komsomol in die Partei, der sich sonst fast automatisch vollzog, heute enorm erschwert ist. Der Entzug des letzten Rests, selbst des Scheins von politischen Rechten, hat das Bestreben zur Ursache, den Komsomol vollständig und endgültig der gereinigten Partei unterzuordnen. Beide einander deutlich widersprechenden Maßnahmen gehen dennoch auf ein und dieselbe Quelle zurück: die Furcht der Bürokratie vor der jungen Generation.

Die Berichterstatter, die nach ihren eigenen Worten direkte Aufträge Stalins ausführten – diese Warnungen sollten von vornherein selbst die bloße Möglichkeit von Debatten ausschließen – erläuterten das Ziel der Reform mit einer beinahe verblüffenden Offenheit: „Wir brauchen keine zweite Partei“. Dies Argument ließ durchblicken, dass nach Ansicht der herrschenden Spitze der Komsomol, wenn er nicht ein für allemal erwürgt wird, sich in eine zweite Partei zu verwandeln droht. Wie um deren mögliche Tendenzen zu umreißen, erklärte der Berichterstatter warnend: „ Seinerzeit versuchte niemand anders als Trotzki, demagogisch mit der Jugend schäkernd, ihr den antileninistischen, antibolschewistischen Gedanken von der Notwendigkeit, eine zweite Partei zu schaffen, einzuimpfen“, usw. Die historische Anspielung des Berichterstatters enthält einen Anachronismus: in Wirklichkeit warnte Trotzki „seinerzeit“ nur, dass eine weitere Bürokratisierung des Regimes unvermeidlich zum Bruch mit der Jugend führen und die Gefahr einer zweiten Partei heraufbeschwören müsse. Doch gleichwohl: der Gang der Ereignisse hat die Warnung bekräftigt und sie damit zu einem Programm gemacht. Die entartete Partei übt nur noch auf die Karrieristen Anziehungskraft aus. Die ehrlichen und denkenden jungen Männer und Frauen muss es ekeln vor der byzantinischen Kriecherei, vor der falschen, Privilegien und Willkür deckenden Rhetorik, vor der Prahlerei der mittelmäßigen, sich gegenseitig beweihräuchernden Bürokraten, vor all diesen Marschällen, die noch keine Sterne am Himmel pflückten, sich dafür aber welche an alle Körperteile heften. Es handelt sich folglich nicht mehr um die „Gefahr“ einer zweiten Partei wie vor zwölf, dreizehn Jahren, sondern um ihre historische Notwendigkeit, als der einzigen Kraft, die imstande ist, die Sache der Oktoberrevolution weiterzutreiben. Die Änderung der Komsomolstatuten wird, sei sie auch durch Androhung neuer Polizeistrafen verstärkt, die politische Reifung der Jugend nicht aufhalten und ihren feindlichen Zusammenstoß mit der Bürokratie nicht verhüten.

Auf welche Seite wird sich die Jugend im Falle einer großen politischen Erschütterung schlagen? Um welches Banner wird sie sich scharen? Jetzt kann noch niemand auf diese Frage eine sichere Antwort geben, am wenigsten die Jugend selber. Widersprechende Tendenzen arbeiten an ihrem Bewusstsein. Letzten Endes wird die Selbstbestimmung ihrer Hauptmasse von den historischen weltbedeutenden Ereignissen abhängen: Krieg, neue Erfolge des Faschismus oder umgekehrt Sieg der proletarischen Revolution im Westen. Auf jeden Fall wird sich die Bürokratie überzeugen müssen, dass diese rechtlose Jugend ein historisches Geschoss von kolossaler Sprengkraft darstellt.

1894 antwortete das russische Selbstherrschertum durch den Mund des jungen Zaren Nikolaus II. den Landschaftsabgeordneten, die schüchtern träumten, des politischen Lebens teilhaftig zu werden, mit den berühmten Worten: „Unsinnige Träumereien!“. 1936 antwortete die Sowjetbürokratie auf die noch verworrenen Ansprüche der jungen Generation mit dem noch gröberen Anschnauzer: „Mit dem Geschwätz aufhören!“. Diese Worte werden ebenfalls in die Geschichte eingehen. Stalins Regime mag nicht weniger schwer dafür zahlen als jenes, an dessen Spitze Nikolaus II. stand

Nation und Kultur

Die nationale Politik des Bolschewismus sicherte den Sieg der Oktoberrevolution und half der Sowjetunion, sich trotz der internen zentrifugalen Kräfte und trotz der feindlichen Umkreisung auch in der Folgezeit zu halten. Die bürokratische Entartung des Staates lastete auf der nationalen Politik wie ein schwerer Stein. Gerade in der nationalen Frage gedachte Lenin gegen die Bürokratie, und vor allem gegen Stalin, auf dem 12. Parteikongress im Herbst 1923 den ersten Schlag zu führen. Allein, bevor noch der Kongress tagte, trat Lenin aus der Reihe. Die Dokumente, die er damals vorbereitete, sind bis heute von der Zensur mit Beschlag belegt.

Die kulturellen Bedürfnisse der von der Revolution erweckten Nationen benötigen breiteste Autonomie. Gleichzeitig kann die Wirtschaft sich nur bei Unterordnung aller Teile der Union unter einen gemeinsamen zentralistischen Plan erfolgreich entwickeln. Wirtschaft und Kultur sind aber voneinander nicht durch undurchdringliche Scheidewände getrennt. Die Tendenzen nach kultureller Autonomie und wirtschaftlichem Zentralismus geraten darum von Zeit zu Zeit miteinander in Konflikt. Jedoch ist der Gegensatz zwischen ihnen keineswegs unversöhnlich. Gibt es zu seiner Lösung auch keine fix und fertige Formel und kann es eine solche auch gar nicht geben, so ist dafür doch der geschmeidige Wille der interessierten Massen selbst da: nur ihre tätige Beteiligung an der Leitung des eigenen Geschicks vermag auf jeder neuen Etappe den notwendigen Trennungsstrich zwischen den rechtmäßigen Anforderungen des wirtschaftlichen Zentralismus und den Lebensansprüchen der nationalen Kulturen zu ziehen. Das Unglück ist jedoch eben, dass in der UdSSR der Wille der Bevölkerung, vertreten durch all ihre nationalen Bestandteile, heute ganz und gar dem Willen der Bürokratie untergeordnet ist, die sowohl an die Wirtschaft wie an die Kultur vom Standpunkt der Bequemlichkeit für die Leitung und der spezifischen Interessen der herrschenden Schicht herantritt.

Allerdings fährt die Sowjetbürokratie auf dem Gebiet der nationalen Politik wie auf dem der Wirtschaft noch fort, eine gewisse progressive Arbeit zu leisten, wenn auch mit maßlosen Unkosten. Dies bezieht sich vor allem auf die zurückgebliebenen Völkerschaften der Union, die notwendigerweise eine mehr oder weniger lange Periode der Übernahme. Nachahmung und Verarbeitung des Fertigen durchmachen müssen. Die Bürokratie baut ihnen eine Brücke zu den Elementargütern der bürgerlichen, zum Teil auch noch vorbürgerlichen Kultur. Hinsichtlich einer Reihe von Bezirken und Völkerschaften leistet die Sowjetmacht in erheblichem Masse das historische Werk, das Peter I. und seine Gesellschafter in bezug auf das alte Moskowien vollbrachte, nur in größerem Maßstab und in schnellerem Tempo.

In den Schulen der Union wird heute in nicht weniger als achtzig Sprachen unterrichtet. Für die meisten musste ein neues Alphabet geschaffen oder das asiatische, sehr aristokratische durch ein demokratischeres, das lateinische ersetzt werden. In ebenso vielen Sprachen erscheinen Zeitungen, welche die Bauern und Hirtennomaden zum erstenmal in die elementaren Ideen der menschlichen Kultur einweihen. In den entlegensten Randgebieten des Zarenreichs entstehen eigene Industrien. Das alte halbe Stammesdasein birst unter dem Traktor. Neben der Schriftkunde tauchen Ackerbau- und Heilkunde auf. Schwerlich lässt sich die Bedeutung dieses Aufbauwerks an neuen Menschenschlägen überschätzen. Nicht ohne Grund sagte Marx, die Revolution sei die Lokomotive der Geschichte.

Aber auch die stärkste Lokomotive vollbringt keine Wunder: sie ändert die Gesetze des Raums nicht, sondern beschleunigt bloß die Bewegung. Die Notwendigkeit allein, Dutzende von Millionen Erwachsener mit dem ABC, der Zeitung oder den einfachsten Hygieneregeln bekannt zu machen, zeigt, ein wie großer Weg noch zurückzulegen ist. bevor man wirklich die Fragen der neuen sozialistischen Kultur wird stellen können. Die Presse teilt beispielsweise mit, dass die Oiraten in Westsibirien, die früher nicht wussten, was sich waschen heißt, jetzt „in vielen Dörfern Bäder haben, wohin man zuweilen 30 Kilometer weit kommt, um sich zu waschen“, Des extreme, am tiefsten Pol der Kultur genommene Beispiel, beleuchtet jedoch grell das Niveau vieler anderer Errungenschaften, und nicht nur in den rückständigen Randgebieten. Wenn das Oberhaupt der Regierung zur Illustrierung des Kulturwachstums darauf hinweist, dass in den Kolchosen die Nachfrage nach „eisernen Betten, Wanduhren, Strickkleidung, Wolljacken, Fahrrädern“ usw. steigt, so bedeutet das nur, dass die wohlhabenden Spitzen des Sowjetdorfs beginnen, sich der Industrieartikel zu erfreuen, die seit langem zum Bedarf der Bauernmassen im Westen gehören. Tagaus tagein werden in den Reden und der Presse Lehren zum Thema des „kultivierten sozialistischen Handels“ erteilt. Im Grunde handelt es sich nur darum, den Staatsläden ein sauberes und anziehendes Aussehen zu geben, sie mit der nötigen technischen Ausstattung und einer ausreichenden Warenauswahl zu versehen, die Äpfel nicht verfaulen zu lassen, den Strümpfen Stopfgarn beizulegen, schließlich den Verkäufern beizubringen, sich aufmerksam und höflich zum Käufer zu verhalten, mit einem Wort, das zu erreichen, was beim kapitalistischen Handel die Regel ist. Bis zur Lösung dieser sehr wichtigen Aufgabe, die jedoch kein Quäntchen Sozialismus enthält, ist es bis jetzt noch ziemlich weit.

Lassen wir eine Minute lang die Gesetze und Institutionen beiseite und nehmen wir das Alltagsleben der großen Masse der Bevölkerung, ohne uns selbst noch anderen absichtlich etwas vorzumachen, so muss man zugeben, dass in den Sitten und in der Lebensweise des Sowjetlandes das Erbe des zaristischen und bürgerlichen Russlands die Keime des Sozialismus noch bei weitem überwiegt. Davon spricht am überzeugendsten die Bevölkerung selbst, die bei der geringsten Erhöhung des Lebensstandards sich gierig auf die fertigen westlichen Muster stürzt. Die jungen Sowjetangestellten, häufig auch Arbeiter. bemühen sich, in Kleidung und Manieren die amerikanischen Ingenieure und Techniker nachzuahmen, mit denen sie gelegentlich in der Fabrik eng in Berührung kommen. Die Industriearbeiterinnen oder weiblichen Büroangestellten verschlingen die ausländischen Touristinnen mit den Augen, um ihnen Mode und Manieren abzugucken. Die Glückliche, der dies gelungen ist, wird zum Gegenstand der allgemeinen Nachahmung. Statt der alten Haarwickel lassen sich die besser bezahlten Arbeiterinnen „Dauerwellen“ machen. Die Jugend schreibt sich mit Vorliebe in Zirkel für „westliche Tänze“ ein, in gewissem Sinne ist all dies ein Fortschritt. Doch drückt sich darin bislang nicht die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus aus, sondern die der kleinbürgerlichen Kultur über die patriarchale, der Stadt über das Land, des Zentrums über den Krähwinkel, des Westens über den Osten.

Die privilegierten Sowjetschichten machen ihre Entlehnungen bei den höheren kapitalistischen Sphären; als Schiedsrichter fungieren dabei die Diplomaten, Trustdirektoren, Ingenieure, die häufig Gelegenheit haben, nach Europa und Amerika zu reisen. Die Sowjetsatire schweigt darüber, da es ihr streng verboten ist, an die oberen „Zehntausend“ zu rühren. Indessen kann man nicht ohne Bitterkeit bemerken, dass die hohen Sendboten der Sowjetunion es nicht verstanden haben vor der kapitalistischen Zivilisation einen eigenen Stil oder auch nur irgendeinen selbständigen Zug aufzuweisen. Sie haben in sich nicht genug innere Standhaftigkeit gefunden, um den äußeren Schein zu verachten und die nötige Distanz zu wahren, ihr Hauptehrgeiz ist gewöhnlich, sich so wenig wie möglich von den vollendetsten bürgerlichen Snobs zu unterscheiden, Mit einem Wort, sie fühlen und benehmen sich in der Mehrzahl nicht wie Vertreter einer neuen Welt sondern wie gewöhnliche Parvenüs!

Zu sagen, die Sowjetunion leiste heutzutage im Grunde die Kulturarbeit, welche die fortgeschrittenen Länder auf der Basis des Kapitalismus längst vollbracht haben, würde jedoch nur die halbe Wahrheit sein. Die neuen Gesellschaftsformen sind durchaus nicht gleichgültig: sie ermöglichen dem zurückgebliebenen Land nicht nur, das Niveau der fortgeschrittenen zu erreichen, sondern gestatten ihm auch, diese Aufgabe in viel kürzerer Zeit durchzuführen, als dazu seinerzeit im Westen benötigt wurde. Die Lösung des Rätsels dieser Beschleunigung im Vormarsch ist einfach: die bürgerlichen Pioniere mussten ihre Technik erfinden und sie in Wirtschaft und Kultur anzuwenden lernen. Die Sowjetunion übernimmt das Fertige in seiner letzten Vervollkommnung und wendet dank der vergesellschafteten Produktionsmittel das Entlehnte nicht stückweise und allmählich. sondern mit einem Mal und in gigantischem Maßstab an.

Die militärischen Autoritäten der Vergangenheit haben nicht selten die Rolle der Armee als Kulturträgerin gerühmt, im besonderen in bezug auf die Bauernschaft. Ohne uns Illusionen zu machen über die spezifische „Kultur“, die der bürgerliche Militarismus züchtet, kann man dennoch nicht bestreiten, dass viele progressive Gebräuche durch die Armee in die Volksmassen gebracht wurden: nicht ohne Grund waren es in revolutionären, insbesondere bäuerlichen Bewegungen gewöhnlich gewesene Soldaten und Unteroffiziere, die an der Spitze standen. Das Sowjetregime hat die Möglichkeit, auf das tägliche Leben des Volkes nicht nur durch die Armee einzuwirken, sondern durch den gesamten Staatsapparat und die mit ihm verflochtenen Apparate der Partei, des Komsomol und der Gewerkschaften. Die Aneignung der fertigen Muster der Technik, Hygiene, Kunst, des Sports in so ungleich kürzeren Fristen, als in ihrer Heimat zu ihrer Ausarbeitung benötigt wurde, ist durch die staatlichen Eigentumsformen, die politische Diktatur und die planmäßige Leitung gewährleistet.

Hätte die Oktoberrevolution weiter nichts als dies beschleunigte Tempo gebracht, schon das würde sie historisch rechtfertigen, denn das bürgerliche Verfallsregime erwies sich im letzten Vierteljahrhundert außerstande, auch nur in einem Erdteil einem einzigen der rückständigen Länder einen ernsthaften Ruck nach vorwärts zu geben. Jedoch das russische Proletariat vollbrachte den Umsturz namens viel weiter gehender Aufgaben. Wie sehr es jetzt auch politisch unterdrückt ist, sein bester Teil hat auf das kommunistische Programm und die damit verbundenen gewaltigen Hoffnungen nicht verzichtet. Die Bürokratie ist gezwungen, dem Proletariat Rechnung zu tragen, zum Teil in der eigentlichen Richtung ihrer Politik, zur Hauptsache in ihrer Auslegung, Daher wird jeder Schritt vorwärts auf dem Gebiet der Wirtschaft oder des Daseins, unabhängig von seinem tatsächlichen historischen Gehalt oder seiner realen Bedeutung für das Leben der Massen, als unerhörte, noch nie dagewesene Errungenschaft der „sozialistischen Kultur“ ausgerufen. Toilettenseife und Zahnbürsten zum erworbenen Gut von Millionen zu machen, die bis gestern nicht einmal die einfachsten Sauberkeitsansprüche kannten, ist ohne Frage ein sehr großes Kulturwerk, Aber weder Seife, noch Bürsten, oder gar Parfums, wie sie „unsere Frauen“ begehren, machen bereits die sozialistische Kultur, vor allem nicht dann, wenn diese armseligen Attribute der Zivilisation nur für einige 15% der Bevölkerung erschwinglich sind.

Die „Umgestaltung der Menschen“, von der in der Sowjetpresse so häufig geredet wird, ist tatsächlich voll im Gange. Aber in welchem Maße ist dies eine sozialistische Umgestaltung? Das russische Volk kannte in der Vergangenheit weder eine große religiöse Reformation wie die Deutschen, noch eine große bürgerliche Revolution wie die Franzosen. Aus diesen beiden Schmelzöfen – lässt man die Reformation-Revolution der britischen Inselbewohner im 17. Jahrhundert beiseite kam die bürgerliche Individualität zur Welt, diese sehr bedeutende Stufe in der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit überhaupt. Die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 bezeichneten notwendigerweise ein erstes Erwachen der Individualität in den Massen, ihre Loslösung aus dem primitiven Milieu, d.h. sie leisteten in verkleinertem Umfang und beschleunigtem Marsch das Erziehungswerk der bürgerlichen Reformationen und Revolutionen des Westens. Jedoch schon lange bevor dieses Werk auch nur im Groben beendet gewesen wäre, wurde die russische Revolution, ausgebrochen beim Niedergang des Kapitalismus, durch den Gang des Klassenkampfes auf sozialistische Geleise geschoben. Die Widersprüche auf dem Gebiet der Sowjetkultur spiegeln und brechen nur die aus diesem Sprung erwachsenen wirtschaftlichen und sozialen Widersprüche. Das Erwachen der Persönlichkeit bekommt dabei notwendigerweise mehr oder weniger kleinbürgerlichen Charakter, nicht bloß in der Wirtschaft, sondern auch im Familienleben und in der Lyrik. Trägerin eines extremen, zuweilen zügellosen bürgerlichen Individualismus wurde die Bürokratie selbst. Sie erlaubt und fördert die Entwicklung des ökonomischen Individualismus (Akkordwesen. Hofwirtschaften, Prämien, Orden) und unterdrückt zugleich grausam die fortschrittlichen Seiten des Individualismus in der Sphäre der Geisteskultur (kritische Anschauung, Bildung einer eigenen Meinung, Erziehung zu persönlicher Würde).

Je höher das Entwicklungsniveau einer gegebenen nationalen Gruppe oder je mehr ihr kulturelles Schaffen entfaltet ist, um so mehr nimmt sie sich der Probleme der Gesellschaft und der Persönlichkeit an, um so drückender und unerträglicher wird die bürokratische Umklammerung. Es kann in der Tat von einer Eigenart der Nationalkulturen nicht die Rede sein, wenn ein und derselbe Taktstock, richtiger Polizeiknüppel, sich anmaßt, alle geistigen Betätigungen sämtlicher Völker der Union zu dirigieren. Die ukrainischen, weißrussischen, georgischen oder türkischen Zeitungen und Bücher sind nur Übersetzungen der bürokratischen Imperative in die Sprache der betreffenden Völkerschaften. Als Muster des Volksschaffens publiziert die Moskauer Presse täglich in russischer Übersetzung die Oden preisgekrönter Nationaldichter zu Ehren der Führer, in Wahrheit klägliche Knüttelverse, die sich voneinander nur durch den Grad der Talentlosigkeit und der Speichelleckerei unterscheiden.

Die großrussische Kultur, die unter dem Hauptwachtregime nicht weniger leidet als die anderen, lebt vornehmlich auf Kosten der alten, noch vor der Revolution geformten Generation. Die Jugend ist gleichsam unter einer eisernen Plane erdrückt. Es handelt sich somit nicht um die Unterjochung einer Nationalität durch die andere im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern um die Unterjochung der kulturellen Entwicklung aller Nationen. angefangen mit der großrussischen, durch den zentralisierten Polizeiapparat. Wir können indes nicht umhin, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass 90% aller Publikationen in der UdSSR in russischer Sprache erscheinen. Freilich, wenn auch dieser Prozentsatz zur Verhältniszahl der großrussischen Bevölkerung in schreiendem Missverhältnis steht, so entspricht er schon eher dem allgemeinen Einfluss der russischen Kultur sowohl in bezug auf ihr Eigengewicht wie auf ihre Rolle als Vermittlerin zwischen den rückständigen Völkern des Landes und dem Westen. Bedeutet nicht bei alledem der übermäßige Anteil der Großrussen am Verlagswesen (und nicht nur daran, natürlich), dass sie faktisch eine privilegierte Großmachtstellung auf Kosten der übrigen Nationalitäten der Union einnehmen? Durchaus möglich. Doch man kann auf diese hochbedeutsame Frage nicht so kategorisch antworten, wie es nötig wäre, denn im Leben wird sie nicht so sehr durch Zusammenarbeit, Wetteifern und gegenseitige Befruchtung der Kulturen entschieden als vielmehr durch berufungslosen Schiedsspruch der Bürokratie. Da nun aber die Residenz der Macht der Kreml ist und die Peripherie sich nach dem Zentrum richten muss, bekommt die Bürokratie unvermeidlich einen großmachtähnlichen, russifizierenden Anstrich; den anderen Nationalitäten lässt sie nur ein unbestrittenes Recht: dem Schiedsrichter in ihrer Sprache lobzusingen.

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Die offizielle Doktrin von der Kultur wechselt je nach den Wirtschaftszickzacks und dem administrativen Gutdünken; bei allen Wendungen aber behält sie ihr absolutes und kategorisches Wesen, Gleichzeitig mit der Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ gelangte die bis dahin vernachlässigte Theorie von der „proletarischen Kultur“ offiziell zu Ehren. Die Gegner dieser Theorie beriefen sich darauf, dass das Regime der proletarischen Diktatur nichts weiter als ein Übergangsregime ist, dass zum Unterschied von der Bourgeoisie das Proletariat sich nicht anschickt, während mehreren Geschichtsepochen zu herrschen, dass die gegenwärtige Generation der neuen herrschenden Klasse vor allem die Aufgabe verfolgt, alles Wertvolle in der bürgerlichen Kultur zu assimilieren, dass je mehr das Proletariat Proletariat bleibt, d.h. ihm noch die Spuren der gestrigen Bedrückung anhaften, es um so weniger imstande ist, sich über das historische Erbteil der Vergangenheit hinauszuheben, dass die Möglichkeiten neuen Schaffens sich in Wahrheit nur in dem Masse auftun werden, wie das Proletariat sich in der sozialistischen Gesellschaft auflöst. All dies bedeutet mit anderen Worten, dass die bürgerliche Kultur von der sozialistischen und nicht proletarischen abgelöst werden muss.

In der Polemik gegen die Theorie einer im Laboratorium geschaffenen „proletarischen Kunst“ schrieb der Autor dieser Zeilen: „Die Kultur nährt sich von den Säften der Wirtschaft, und es bedarf eines materiellen Überflusses, damit die Kultur wachsen, und sich sublimieren [=verfeinern] kann“. Selbst die erfolgreichste Lösung der elementaren Wirtschaftsaufgaben würde „noch keineswegs den völligen Sieg des neuen geschichtlichen Prinzips – des Sozialismus – bedeuten. Nur die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Denkens auf der Grundlage des ganzen Volks und die Entwicklung einer neuen Kunst würden bedeuten, dass der geschichtliche Keim nicht allein ein Halm, sondern auch eine Blüte gezeitigt hat. In diesem Sinne ist die Entwicklung der Kunst die beste Kontrolle für die Lebensfähigkeit und Bedeutung einer jeden Epoche“. Dieser Gesichtspunkt, der kurz zuvor der herrschende gewesen war, wurde plötzlich in einer offiziellen Erklärung als „Kapitulation“ gebrandmarkt, diktiert vorn „Unglauben“ an die schöpferischen Kräfte des Proletariats. Es begann die Periode Stalin-Bucharin; von diesen war letzterer schon von jeher ein Herold der „proletarischen Kultur“, jener dagegen hatte überhaupt nie über diese Fragen nachgedacht. Beide zusammen waren jedenfalls der Meinung, die Bewegung zum Sozialismus werde im „Schneckentempo“ geschehen und das Proletariat werde Dutzende von Jahren zur Verfügung haben, um sich eine eigene Kultur zu schaffen. Was deren Charakter betrifft, so waren die Ideen der Theoretiker darüber ebenso verworren wie anspruchslos.
Die stürmischen Jahre des ersten Fünfjahresplans stießen die Schneckenperspektive über den Haufen. Das Land trat bereits 1931, am Vorabend der grausamsten Hungersnot, „in den Sozialismus ein“. Bevor somit die offiziell protegierten Schriftsteller, Künstler und Maler noch die proletarische Kunst hatten schaffen können, oder auch nur erste bemerkenswerte Proben davon ablegen, verlautbarte die Regierung, das Proletariat löse sich in der klassenlosen Gesellschaft auf. Es blieb nur übrig, sich mit der Tatsache abzufinden, dass dem Proletariat zur Schaffung einer proletarischen Kultur die notwendigste Voraussetzung fehlte: die Zeit. Die gestrige Konzeption geriet sofort in Vergessenheit. auf die Tagesordnung kam ohne Umschweife die „sozialistische Kultur“. Weiter oben haben wir zum Teil bereits kennen gelernt, was sie enthält.

Geistiges Schaffen erfordert Freiheit. Der eigentliche Vorsatz des Kommunismus: die Natur der Technik und die Technik dem Plan zu unterwerfen, damit die Rohmaterie ohne Sträuben alles hergebe was der Mensch braucht und noch weit mehr, hat zum höchsten Ziel, die schöpferischen Kräfte des Menschen endgültig und ein für allemal aus allen Umklammerungen, Beschränkungen und erniedrigenden Abhängigkeiten zu befreien. Die persönlichen Beziehungen, die Wissenschaft und Kunst werden keinen von außen aufgezwungenen „Plan“. noch auch nur den Schatten eines Zwangs kennen. In welchem Maße das geistige Schaffen ein individuelles oder kollektives sein wird, das wird ganz allein von den Schaffenden selbst abhängen.

Anders das Übergangsregime. Die Diktatur ist ein Ausdruck der früheren Barbarei und nicht der künftigen Kultur. Sie legt notwendigerweise allen Betätigungsarten, und zwar auch dem geistigen Schaffen, harte Beschränkungen auf. Das Revolutionsprogramm erblickte von Anfang an in diesen Beschränkungen ein vorübergehendes Übel und verpflichtete sich, in dem Maße, wie das neue Regime sich festigen würde, alle Freiheitsschranken eine nach der anderen aufzuheben. Jedenfalls war es den Revolutionsführern auch in den heißesten Bürgerkriegsjahren klar, dass die Regierung, von politischen Erwägungen geleitet, wohl die Schaffensfreiheit einschränken, keinesfalls aber auf eine kommandierende Rolle in der Wissenschaft, Literatur und Kunst Anspruch erheben könne. Bei einem ziemlich „konservativen“ persönlichen Kunstgeschmack blieb Lenin politisch in Kunstfragen äußerst vorsichtig und schützte gern seine Unzuständigkeit vor. Dass Lunatscharski, der Volkskommissar für Unterricht und Kunst, alle Art Modernismen protegierte, setzte Lenin oft in Verlegenheit, doch beschränkte er sich auf ironische Bemerkungen in Privatgesprächen, und der Gedanke, seinen literarischen Geschmack zum Gesetz zu erheben, lag ihm gänzlich fern. 1924, bereits an der Schwelle der neuen Periode, formulierte der Autor dieses Buchs das Verhältnis des Staats zu den verschiedenen Künstlergruppen und Kunstrichtungen folgendermaßen: „Indem wir sie alle vor das kategorische Kriterium stellen: Für die Revolution oder gegen die Revolution?“ , müssen wir „ihnen auf dem Gebiet der künstlerischen Selbstbestimmung völlige Freiheit geben“.

Als die Diktatur noch unter sich eine feurige Massenbasis und vor sich die Perspektive des Weltumsturzes hatte, fürchtete sie Experimente, Suchen und Kämpfe der Schulen nicht, denn sie begriff, dass nur auf diesem Wege die neue Kulturepoche vorbereitet werden kann. Die Volksmassen bebten noch in allen ihren Fibern und begannen, zum erstenmal nach tausend Jahren laut zu denken. Alle besten jungen Kräfte der Kunst waren vom Leben gepackt. In den ersten, an Hoffnungen und Verwegenheit reichen Jahren wurden nicht nur die kostbarsten Vorbilder sozialistischer Gesetzgebung geschaffen, sondern auch die besten Erzeugnisse der revolutionären Literatur. In dieselbe Zeit fallen übrigens auch die berühmten Sowjetfilme, die bei ihrer Armut an technischen Mitteln das Staunen der gesamten Welt hervorriefen durch die Frische und Intensität, mit der sie die Wirklichkeit anpackten.

Im Verlauf des Kampfes gegen die Parteiopposition wurden die literarischen Schulen eine nach der anderen unterdrückt. Es blieb übrigens nicht bei der Literatur allein. Auf allen Gebieten der Ideologie griff eine um so entschiedenere Verheerung um sich, als sie größtenteils unbewusst war. Die heutige herrschende Schicht hält sich für berufen, nicht nur politisch das geistige Schaffen zu kontrollieren, sondern ihm auch seinen Entwicklungsweg vorzuschreiben. Das Kommando, gegen das es keine Berufung gibt, erstreckt sich in gleichem Masse über Konzentrationslager, Ackerbau und Musik. Das Zentralorgan der Partei druckt anonyme, richtunggebende Artikel in der Art militärischer Befehle, über Architektur, Literatur, dramatische Kunst. Ballette, ganz zu schweigen von Philosophie, Naturwissenschaft und Geschichte.

Die Bürokratie fürchtet abergläubisch alles, was ihr nicht unmittelbar dient, oder was sie nicht versteht. Wenn sie eine Verbindung zwischen Naturwissenschaft und Produktion fordert, hat sie – in großen Zügen – recht; wenn sie aber verordnet, dass die Forscher sich nur unmittelbare praktische Ziele setzen sollen, droht sie die kostbarsten Quellen des Schaffens zu verstopfen, und damit auch die praktischen Entdeckungen zu verhindern, die meistens auf unvorgesehenen Wegen gemacht werden. Bittere Erfahrung hat die Naturwissenschaftler, Mathematiker, Philologen, Kriegstheoretiker gelehrt, breite Verallgemeinerungen zu meiden, aus Furcht, dass irgendein „roter Professor“, meistens ein ungebildeter Streber, den Neuerer mit einem an den Haaren herbeigezogenen Lenin- oder sogar Stalinzitat schrecklich zurechtweisen könne. In solchen Fällen seinen Gedanken und seine wissenschaftliche Würde verteidigen, heißt sich todsicher Repressionen zuziehen.

Aber noch viel schlimmer ist es um die Gesellschaftswissenschaften bestellt. Die Ökonomen, Historiker, sogar Statistiker, gar nicht zu reden von Journalisten, sind vornehmlich darum besorgt, ja nicht, und sei es auch nur Indirekt, in Gegensatz zum jeweiligen Haken des offiziellen Zickzackkurses zu geraten. Über die Sowjetwirtschaft, Innen- und Außenpolitik kann man nicht anders schreiben, als indem man sich den Rücken und die Flanken mit Banalitäten aus den Reden des „Führers“ deckt und sich von vornherein zur Aufgabe macht nachzuweisen, dass alles just so läuft, wie es laufen soll, und gar noch besser. Mag der hundertprozentige Konformismus auch von irdischen Ungemach befreien, dafür zieht er die schwerste aller Strafen nach sich: Unfruchtbarkeit.

Obgleich formell der Marxismus in der UdSSR Staatsdoktrin ist, erschien in den letzten zwölf Jahren nicht eine einzige marxistische Untersuchung. weder in der Ökonomie, noch der Soziologie, der Geschichte oder Philosophie, welche Aufmerksamkeit oder Übersetzung in fremde Sprachen verdiente. Die marxistische Produktion geht über scholastisches Flickwerk nicht hinaus, worin in einem fort ein und dieselben vorher gebilligten Gedanken wiedergekäut und alte Zitate aufgewärmt werden, je nach den konjunkturellen Bedürfnissen des Apparats. In Millionen Exemplaren werden durch die Staatskanäle Bücher und Broschüren vertrieben, die niemand braucht, und die mit Hilfe von Kleister, Schmeichelei und anderen Klebstoffen hergestellt werden. Die Marxisten, die etwas Wertvolles und Selbständiges zu sagen hätten, sitzen hinter Schloss und Riegel oder sind gezwungen zu schweigen. Und das, obwohl die Evolution der Gesellschaftsformen auf Schritt und Tritt grandiose wissenschaftliche Probleme aufwirft!

Geschmäht und mit Füßen getreten ist auch die Lauterkeit, ohne die theoretische Arbeit unmöglich ist. Selbst die Anmerkungen zu Lenins Werken werden in jeder neuen Auflage vom Gesichtspunkt der persönlichen Interessen des herrschenden Stabs radikal umgearbeitet, zum Ruhm der „Führer“, zur Herabsetzung der Gegner und Verwischung der Spuren. Das gleiche gilt von den Partei- und Revolutionsgeschichtsbüchern. Tatsachen werden entstellt, Dokumente unterschlagen oder auch fabriziert, Reputationen geschaffen oder vernichtet. Die einfache Gegenüberstellung der aufeinanderfolgenden Varianten ein und desselben Buches in den letzten zwölf Jahren erlaubt, untrüglich den Prozess der Entartung von Denken und Gewissen der herrschenden Schicht zu verfolgen.

Nicht weniger unheilbringend handelt das „totalitäre“ Regime an der schönen Literatur. Der Kampf der Richtungen und Schulen ist ersetzt durch die Deutung des Willens der Führer. Für alle Gruppierungen besteht eine gemeinsame Zwangsorganisation, eine Art Konzentrationslager für das gestaltete Wort. Zu Klassikern werden mittelmäßige, aber rechtmeinende Erzähler erhoben wie Serafimowitsch oder Gladkow. Begabten Schriftstellern, die sich nicht genügend Gewalt anzutun verstehen, heftet sich eine Meute von Lehrmeistern auf die Fersen, bewaffnet mit Skrupellosigkeit und einem Dutzend Zitate. Hervorragende Künstler enden entweder mit Selbstmord, suchen ihren Stoff in zurückliegenden Zeiten, oder schweigen still. Ehrliche und talentvolle Bücher erscheinen gleichsam aus Versehen, irgendwoher aus dem Verborgenen hervorschlüpfend, und stellen eine Art künstlerischer Schmuggelware dar.

Das Leben der Sowjetkunst ist ein eigener Martyrolog. Nach einem richtunggebenden Artikel der Prawda gegen den „Formalismus“ setzt eine Epidemie demütiger Beichten von Schriftstellern, Malern, Regisseuren und selbst Opernsängerinnen ein. Alle sagen sie sich von den eigenen vergangenen Sünden los, hüten sich jedoch – auf alle Fälle – vor einer genaueren Umschreibung des Formalismus, um nicht in Verlegenheit zu geraten. Zuletzt ist die Macht gezwungen, durch einen neuen Befehl dem überschäumenden Reuestrom Einhalt zu gebieten. Innerhalb weniger Wochen werden literarische Urteile revidiert, Schulbücher umgearbeitet, Straßen umbenannt, Denkmäler errichtet auf Grund einer lobenden Bemerkung Stalins über den Dichter Majakowski. Der Eindruck einer neuen Oper auf hohe Zuschauer verwandelt sich unverzüglich in eine musikalische Direktive für die Komponisten. Der Komsomolsekretär sagt auf einer Schriftstellertagung: „Die Weisungen des Genossen Stalin sind uns allen Gesetz“. und alles applaudiert, wenn auch wahrscheinlich einige vor Scham erröten. Wie um die Literatur vollends zu verspotten, wird Stalin, der keinen richtigen russischen Satz bilden kann, zum Klassiker des Stils erkoren. Es ist etwas tief Tragisches in diesem Byzantinismus und dieser Polizeiherrschaft, trotz der unfreiwilligen Komik einzelner seiner Erscheinungen!

Die offizielle Formel lautet: die Kultur soll sozialistisch sein im Inhalt, national in der Form. Jedoch über den Inhalt der sozialistischen Kultur kann man nur mehr oder weniger liebliche Hypothesen aufstellen. Sie auf eine unzureichende Wirtschaftsbasis zu verpflanzen, ist niemandem gegeben. Die Kunst ist in viel geringerem Grade als die Wissenschaft imstande, die Zukunft vorwegzunehmen. Jedenfalls vermögen Rezepte wie: „den Bau der Zukunft darstellen“, „dem Sozialismus den Weg weisen“, „den Menschen umgestalten“, der schöpferischen Einbildung nicht viel mehr zu sagen als eine Preisliste für Feilen oder ein Eisenbahnfahrplan.

Die nationale Form der Kunst wird gleichgesetzt mit ihrer Allgemeinverständlichkeit. „Was das Volk nicht braucht“, schreibt die „Prawda den Künstlern vor, „kann auch keine ästhetische Bedeutung besitzen“. Diese alte Formel der Narodniki, welche die Aufgabe der künstlerischen Erziehung der Massen leugnet, ist um so reaktionärer geworden, als das Recht zu entscheiden, welche Kunst das Volk braucht und welche nicht, der Bürokratie überlassen bleibt: sie druckt die Bücher nach eigener Auslese und verkauft sie zwangsweise, ohne dem Leser irgendwelche Wahl zu lassen. Letzten Endes läuft die Sache für sie darauf hinaus, dass die Kunst sich ihrer Interessen annimmt und ihnen solche Formen verleiht, dass die Bürokratie den Volksmassen so reizend wie möglich erscheine.

Vergebens! Keine Literatur wird dieser Aufgabe gerecht werden. Die Führer müssen selber zugeben, dass „weder der erste noch der zweite Fünfjahresplan bislang eine neue literarische Welle gebracht, welche die erste, aus dem Oktober geborene Welle überträfe“. Das ist sehr gelinde gesagt. In Wirklichkeit wird die Epoche des Thermidor trotz einzelner Ausnahmen in die Geschichte des Kunstschaffens vorzugsweise eingehen als eine „Epoche“ von Stümpern, Laureaten und Leisetretern!



Kapitel VIII:
Außenpolitik und Heer