IV. Kampf um die Arbeitsproduktivität


Geld und Plan

Wir haben versucht, das Sowjetregime unter dem Gesichtswinkel des Staates zu prüfen. Eine analoge Prüfung lässt sich unter dem Gesichtswinkel des Geldumlaufs anstellen. Diese beiden Probleme: StaatGeld, haben eine Reihe gemeinsamer Züge, weil sie letzten Endes beide auf das Problem aller Probleme zurückgehen: die Produktivität der Arbeit. Der staatliche wie der Geldzwang sind ein Erbteil der Klassengesellschaft, die die Beziehungen von Mensch zu Mensch nicht anders bestimmen kann als durch Fetische, kirchliche oder weltliche, und zu ihrem Schutz den fürchterlichsten aller Fetische eingesetzt hat: den Staat, mit einem großen Messer zwischen den Zähnen. In der kommunistischen Gesellschaft werden Staat und Geld verschwunden sein. Ihr allmähliches Absterben muss also schon unter dem Sozialismus beginnen. Von einem tatsächlichen Sieg des Sozialismus wird man erst in dem geschichtlichen Augenblick sprechen können, wenn der Staat nur noch halb ein Staat ist und das Geld seine magische Kraft einzubüßen beginnt. Das wird bedeuten, dass mit dem Sozialismus, der sich der kapitalistischen Fetische entledigt, zwischen den Menschen durchsichtigere, freiere, würdigere Beziehungen zu walten beginnen.

Für den Anarchismus charakteristische Forderungen wie „Abschaffung“ des Geldes, „Abschaffung“ des Arbeitslohns oder „Aufhebung“ des Staates und der Familie können nur als Musterbeispiele mechanischen Denkens Interesse beanspruchen. Das Geld kann man nicht willkürlich „abschaffen“, und den Staat oder die alte Familie nicht „aufheben“, sie müssen ihre historische Mission erfüllen, verwelken und verschwinden. Dem Geldfetischismus wird erst auf der Stufe der Todesstoß versetzt sein, wo ein unaufhörliches Wachsen des gesellschaftlichen Reichtums den Zweifüßlern ihr Geizen mit jeder Minute Mehrarbeit und ihre demütigende Angst um die Größe ihrer Ration abgewöhnt haben wird. Mit dem Verlust seiner Eigenschaft, Glück zu bringen und in den Staub zu werfen, wird sich das Geld in einfache Rechenbelege verwandeln, zur Bequemlichkeit der Statistik und der Planaufstellungen. Noch später wird es wahrscheinlich auch solcher Quittungen nicht mehr bedürfen. Doch diese Sorge können wir getrost unseren Nachkommen überlassen, die klüger sein werden als wir.

Die Nationalisierung der Produktionsmittel und des Kredits, die Vergenossenschaftung oder Verstaatlichung des Binnenhandels, das Monopol des Außenhandels, die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Erbschaftsgesetzgebung stecken der persönlichen Geldakkumulation enge Grenzen und erschweren ihre Verwandlung in privates (Wucher-, Kaufmanns- und Industrie-)Kapital. Diese mit der Ausbeutung verknüpfte Funktion des Geldes ist jedoch beim Anfang der proletarischen Revolution noch nicht liquidiert, sondern geht in umgeformter Gestalt an den Staat über, den universellen Kaufmann, Gläubiger und Industriellen. Zugleich bleiben die elementareren Funktionen des Geldes als Wertmesser, Tausch- und Zahlungsmittel nicht nur erhalten, sondern bekommen auch ein viel breiteres Wirkungsfeld als unter dem Kapitalismus.

Das administrative Planwesen hat zur Genüge seine Kraft bewiesen, zugleich aber auch die Grenzen seiner Kraft. Ein vorgefasster Wirtschaftsplan ist, vor allem in einem zurückgebliebenen Land mit einer 170-Millionenbevölkerung und tiefen Gegensätzen zwischen Stadt und Land, kein unverrückbares Gebot, sondern ein Entwurf, eine Arbeitshypothese, die im Laufe der Durchführung der Prüfung und Umarbeitung unterliegt. Man kann sogar eine Regel aufstellen: je „genauer“ die administrative Aufgabe erfüllt wird, um so schlimmer steht es um die Wirtschaftsleitung. Zwei Hebel müssen zur Regulierung und Anpassung der Pläne dienen: ein politischer, gebildet durch die reale Beteiligung der interessierten Massen selbst an der Leitung, was ohne Sowjetdemokratie undenkbar ist, und ein finanzieller. gebildet durch eine reale Prüfung der apriorischen Berechnungen mit Hilfe eines allgemeinen Äquivalenten, undenkbar ohne festes Geldsystem.

Die Rolle des Geldes in der Sowjetwirtschaft ist nicht nur noch nicht ausgespielt, sondern soll sich, wie bereits gesagt, erst restlos entfalten. Die Übergangsepoche zwischen Kapitalismus und Sozialismus als Ganzes genommen bedeutet keine Verminderung, sondern umgekehrt eine außerordentliche Ausdehnung des Warenumlaufs. Alle Industriezweige wandeln und vergrößern sich, ständig entstehen neue, und alle sind gezwungen, quantitativ und qualitativ ihr gegenseitiges Verhältnis zu bestimmen. Die gleichzeitige Liquidierung der bäuerlichen Verbrauchswirtschaft und des in sich abgeschlossenen Familienwesens bedeutet, all jene Arbeitsenergien in die Sprache des gesellschaftlichen Verkehrs und damit des Geldumlaufs zu übertragen, die bisher innerhalb der Grenzpfähle des Bauernhofes oder der Wände der Privatwohnung verausgabt wurden. Alle Produkte und Dienstleistungen beginnen zum ersten Mal in der Geschichte, sich gegenseitig auszutauschen.

Andererseits ist ein erfolgreicher sozialistischer Aufbau undenkbar ohne Einschaltung des unmittelbaren persönlichen Interesses der Erzeuger und Verbraucher in das Plansystem, d.h. ihres Egoismus, der seinerseits nur in dem Fall befruchtend wirken kann, wenn ihm das gewohnte zuverlässige und geschmeidige Mittel zur Verfügung steht: das Geld. Erhöhung der Arbeitsproduktivität und Verbesserung der Produktionsqualität sind ohne ein genaues Messinstrument, das frei in alle Poren der Wirtschaft eindringt, d.h. ohne feste Geldeinheit, nicht zu erreichen. Daraus erhellt, dass in der Übergangswirtschaft wie unter dem Kapitalismus das einzig wahre Geld auf Gold basiert. Alles andere Geld ist nur Ersatz. Zwar sind in der Hand des Sowjetstaates ebenso wohl die Warenmassen wie die Geldausgabeorgane vereinigt. An der Sache ändert das aber nichts: administrative Manipulationen mit den Warenpreisen schaffen oder ersetzen nicht im geringsten eine feste Geldeinheit, weder im Binnen- noch erst recht im Außenhandel.

Einer selbständigen, d.h. einer Goldbasis bar, ist das Geldsystem der UdSSR ganz wie das mehrerer kapitalistischer Länder notgedrungen in sich abgeschlossen: für den Weltmarkt existiert der Rubel nicht. Wenn die UdSSR die negativen Seiten eines solchen Systems viel leichter ertragen kann als Deutschland oder Italien, so nur zum Teil dank des Außenhandelsmonopols, zur Hauptsache aber dank der natürlichen Reichtümer des Landes: nur diese machen es ihr möglich, nicht im Schraubstock der Autarkie zu ersticken. Die historische Aufgabe besteht jedoch keineswegs darin, nicht zu ersticken, sondern angesichts der Höchstleistungen des Weltmarkts eine machtvolle, ganz und gar rationelle Wirtschaft zu schaffen, worin größtmögliche Zeitersparnis und infolgedessen höchste Entfaltung der Kultur gewährleistet sind.

Gerade die dynamische Sowjetwirtschaft, die unaufhörlich technische Revolutionen und grandiose Erfahrungen durchmacht, bedarf mehr als irgendeine andere beständiger Nachprüfung vermittels eines festen Wertmessers. Theoretisch kann es nicht den geringsten Zweifel daran geben, dass die Resultate der Fünfjahrespläne, verfügte die Wirtschaft der UdSSR über einen Goldrubel, unvergleichlich vorteilhafter wären, als sie jetzt sind. Natürlich, was nicht ist, ist nicht. Aber man soll aus der Not keine Tugend machen, denn das führt seinerseits zu weiteren wirtschaftlichen Fehlern und Verlusten.

„Sozialistische“ Inflation

Die Geschichte des Sowjetgeldsystems ist nicht bloß die Geschichte der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Erfolge und Misserfolge, sondern auch eine Geschichte der Zickzacks des bürokratischen Denkens.

Die Wiedereinführung des Rubels in den Jahren 1922-1924 im Zusammenhang mit dem Übergang zur NEP war untrennbar von der Wiedereinführung der „bürgerlichen Rechtsnormen“ in der Verteilung der Gebrauchsartikel. Solange der Kurs auf den Farmer in Geltung war, bildete der Tscherwonez den Gegenstand der Regierungssorgen. Dagegen wurden in der Periode des ersten Fünfjahresplans alle Schleusen der Inflation geöffnet. Von 0,7 Milliarden Rubel Anfang 1925 stieg die Gesamtsumme der Geldemission bis Anfang 1928 auf die verhältnismäßig bescheidene Summe von 1.7 Milliarden, womit sie ungefähr die Höhe des Papiergeldumlaufs im zaristischen Russland kurz vor dem Kriege erreichte, selbstverständlich ohne die frühere Metallbasis. Im weiteren Verlauf zeichnet die Inflation von Jahr zu Jahr folgende Fieberkurve: 2,0 – 2,8 – 4,3 – 5,5 – 8.4 Die letzte Ziffer, 8,4 Milliarden Rubel, wurde Anfang 1933 erreicht. Danach folgen Jahre des Besinnens und des Rückzugs: 6,9 – 7,7 – 7,9 Milliarden (1935).

Der Rubel von 1924, der offiziell mit 13 französischen Francs notiert wurde, war im November 1935 auf 3 Francs gesunken, d.h. auf ein Viertel, fast ebensoviel wie der französische Franc im Anschluss an den Krieg. Beide Notierungen. die alte wie die neue, sind sehr bedingt zu nehmen: die Kaufkraft des Rubels bei den Weltpreisen erreicht heute kaum anderthalb Francs. Doch das Ausmaß der Entwertung zeigt immerhin, in welch halsbrecherischer Geschwindigkeit die Sowjetwährung bis 1934 hinabgerutscht war.

Auf dem Höhepunkt seines ökonomischen Abenteurertums versprach Stalin, die NEP, d.h. die Marktverhältnisse, „zum Teufel“ zu jagen. Die ganze Presse schrieb genau wie 1918 über die endgültige Ersetzung des Kaufs und Verkaufs durch die „unmittelbare sozialistische Verteilung“. als deren äußeres Zeichen die Lebensmittelkarte bezeichnet wurde. Zu gleicher Zeit wurde die Inflation als eine dem Sowjetsystem überhaupt fremde Erscheinung kategorisch geleugnet. „Die Stabilität der Sowjetwährung“, sagte Stalin im Januar 1933, „ist vor allen Dingen gewährleistet durch die gewaltigen Warenmengen im Besitz des Staates, die zu festen Preisen in den Warenverkehr gebracht werden“. Obzwar dieser rätselhafte Aphorismus nirgends entwickelt oder erläutert wurde (zum Teil gerade deswegen), wurde er zum Grundgesetz der Sowjetgeldtheorie, genauer gesagt. eben der geleugneten Inflation. Der Tscherwonez war von nun an nicht mehr das allgemeine Äquivalent, sondern nur ein allgemeiner Schatten einer „gewaltigen“ Warenmenge, wobei er wie jeder Schatten das Recht bekam, sich zu verkürzen oder zu verlängern. Wenn diese trostreiche Doktrin einen Sinn hatte, so nur diesen: das Sowjetgeld hört auf, Geld zu sein, es dient nicht mehr zum Messen des Wertes, „die festen Preise“ werden von der Staatsgewalt festgesetzt, der Tscherwonez ist nur noch ein konventionelles Papierchen der Planwirtschaft, d.h. eine universelle Verteilungskarte: mit einem Wort, der Sozialismus hat „endgültig und unwiderruflich“ gesiegt.

Die utopischsten Ansichten aus der Periode des Kriegskommunismus erstanden wieder auf, zwar auf einer neuen, etwas höheren, doch leider für eine Liquidierung des Geldumlaufs noch ganz ungenügenden wirtschaftlichen Grundlage. In den regierenden Kreisen herrschte entschieden die Meinung vor, in einer Planwirtschaft sei eine Inflation nichts Schlimmes. Das heißt ungefähr: ist ein Kompass vorhanden, dann ist ein Leck im Schiff nicht gefährlich. In Wirklichkeit führt die Geldinflation, die unvermeidlich die Kreditinflation erzeugt, zur Vertauschung der realen Größen durch fiktive und zerfrisst die Planwirtschaft von innen heraus.

Überflüssig zu sagen, dass die Inflation für die werktätigen Massen einer fürchterlichen Steuer gleichkam. Was die mit ihrer Hilfe herausgeholten Vorteile für den Sozialismus betrifft, so sind sie mehr als zweifelhaft. Wohl wuchs die Wirtschaft rasch weiter, aber die ökonomische Effektivität der grandiosen Bauten ließ sich statistisch, aber nicht ökonomisch beurteilen. Durch die Kommandierung des Rubels, d.h. dadurch, dass ihm willkürlich verschiedene Kaufkraft zukam je nach der Bevölkerungsschicht und dem Wirtschaftssektor, beraubte sich die Bürokratie eines unerlässlichen Werkzeugs zur objektiven Messung der eigenen Erfolge und Misserfolge. Das Fehlen einer richtigen Rechenweise, das auf dem Papier durch Kombinationen mit dem „konventionellen Rubel“ verschleiert wurde, führte in Wirklichkeit zum Nachlassen der persönlichen Interessiertheit, zu niedriger Produktivität und noch niedrigerer Warenqualität.

Das Übel nahm bereits während des ersten Fünfjahresplans bedrohlichen Umfang an. Im Juli 1931 stellte Stalin die bekannten „sechs Bedingungen“ auf, deren Hauptaufgabe es war, die Selbstkosten der Industrieproduktion zu senken. Diese „Bedingungen“ (Lohn nach der individuellen Arbeitsleistung, Berechnung der Selbstkosten usw.) enthielten nichts neues: die „bürgerlichen Rechtsnormen“ wurden zu Beginn der NEP aufgestellt und auf dem 12. Parteikongress Anfang 1923 entwickelt. Stalin schloss sich ihnen erst 1931 an, unter dem Einfluss der fallenden Effektivität der Kapitalanlagen. In den folgenden zwei Jahren erschien in der Sowjetpresse fast kein Artikel ohne Hinweis auf die rettende Kraft der „Bedingungen“. Indes, die von der Inflation erzeugten Krankheiten fraßen weiter und wollten sich natürlich nicht heilen lassen. Strenge Repressalien gegen Schädlinge und Saboteure halfen auch nur wenig weiter.

Fast unwahrscheinlich scheint heute die Tatsache, dass die Bürokratie, während sie der „Entpersönlichung“ und der „Gleichmacherei“, d.h. der anonymen „Durchschnitts“arbeit und dem für alle gleichen „Durchschnitts“lohn, den Krieg erklärte, gleichzeitig die NEP „zum Teufel“ schickte, d.h. die Geldschätzung der Waren und damit auch der Arbeitskraft. Mit der einen Hand stellte sie die „bürgerlichen Normen“ wieder her, mit der anderen zerstörte sie deren einziges taugliches Werkzeug. Mit der Ersetzung des Handelsverkehrs durch „geschlossene Verteilungsstellen“ und durch völliges Chaos auf dem Gebiet der Preise verschwand unvermeidlich jedes Verhältnis zwischen der individuellen Arbeit und dem individuellen Arbeitslohn, und die persönliche Interessiertheit des Arbeiters war damit abgetötet.
Die strengsten Vorschriften betreffs wirtschaftlicher Berechnung, Qualität, Gestehungskosten und Leistung hingen in der Luft. Das hinderte die Führer nicht im geringsten, alle wirtschaftlichen Misserfolge aus böswilliger Nichtbefolgung der sechs stalinschen Rezepte zu erklären. Die vorsichtigste Anspielung auf die Inflation galt als Staatsverbrechen. Mit derselben Aufrichtigkeit beschuldigten die Machthaber zuweilen die Schullehrer wegen Nichtbeachtung der Hygienevorschriften, ihnen dabei gleichzeitig verbietend, auf das Fehlen von Seife hinzuweisen.

Die Frage nach dem Schicksal des Tscherwonez stand im Vordergrund des Fraktionskampfes innerhalb der bolschewistischen Partei. Die Plattform der Opposition (1927) verlangte: „unbedingte Sicherung der Geldwertstabilität“. Diese Forderung bildete das Leitmotiv der folgenden Jahre. „Die Inflation muss mit eiserner Hand gestoppt und der Geldwert stabilisiert werden“, schrieb das Auslandsorgan der Opposition im Jahre 1932, selbst wenn es nur „durch einschneidende Kürzung der Kapitalinvestitionen“ möglich ist. Die Rechtfertiger des „Schneckentempos“ und die Überindustrialisatoren hatten scheinbar vorübergehend die Plätze gewechselt. Als Antwort auf die Prahlerei, den Markt „zum Teufel“ jagen zu wollen, empfahl die Opposition der Staatsplanbehörde, in ihren Räumen ein Plakat anzubringen mit der Inschrift: „Die Inflation ist die Syphilis der Planwirtschaft“.

In der Landwirtschaft verursachte die Inflation nicht weniger Schaden. In der Periode, wo die Bauernpolitik noch auf den Farmer orientiert war, wurde angenommen, dass die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft auf der Grundlage der NEP sich im Verlauf von Jahrzehnten vermittels des Genossenschaftswesens vollziehen werde. Das Genossenschaftswesen sollte nacheinander die Einkaufs-, Absatz- und Kreditfunktionen erfassen und schließlich auch die Produktion selbst vergesellschaften. Das Ganze nannte sich „Lenins Genossenschaftsplan“. Die wirkliche Entwicklung ging, wie wir wissen, einen ganz anderen, eher entgegengesetzten Weg, den der gewaltsamen Entkulakisierung und der totalen Kollektivierung. Von allmählicher Vergesellschaftung der einzelnen Wirtschaftsfunktionen in dem Masse, wie die materiellen und kulturellen Bedingungen dafür reif würden, war keine Rede mehr. Die Kollektivierung erfolgte in einer Weise, als handle es sich um die sofortige Verwirklichung des kommunistischen Regimes in der Landwirtschaft.

Die unmittelbare Folge war nicht nur die Vertilgung von mehr als der Hälfte des lebendigen Inventars, sondern, was noch wichtiger ist, eine völlige Gleichgültigkeit der Kolchosbauern gegenüber dem vergesellschafteten Eigentum und den Resultaten der eigenen Arbeit. Die Regierung trat einen ungeordneten Rückzug an. Die Bauern erhielten wieder Hühner, Schweine, Schafe und Kühe in persönlichen Besitz. Das beim Haus liegende Land wurde ihnen zurückerstattet. Der Film der Kollektivierung rollte umgekehrt ab.

Mit der Wiederherstellung der kleinen individuellen Wirtschaften ging der Staat einen Kompromiss ein, zahlte er den individualistischen Tendenzen der Bauernschaft Tribut. Die Kolchosen blieben erhalten, Auf den ersten Blick möchte der Rückzug daher zweitrangig erscheinen. In Wirklichkeit aber lässt sich seine Bedeutung schwerlich überschätzen. Abgesehen von der Kolchosaristokratie deckt der Durchschnittsbauer seinen täglichen Bedarf in größerem Masse aus Arbeit „für sich“ als aus seiner Kolchosbeteiligung. Das Einkommen aus der persönlichen Wirtschaft, besonders wenn darin technische Kulturen, Gartenbau oder Viehzucht betrieben werden, übersteigt den Erwerb desselben Bauern aus der Kollektivwirtschaft oft um das Zwei- bis Dreifache. Diese von der Sowjetpresse selbst bescheinigte Tatsache enthüllt deutlich einerseits die ganz barbarische Vergeudung von Millionen menschlicher, besonders weiblicher Kräfte in Zwergwirtschaften, andererseits die noch ungemein niedrige Arbeitsproduktivität in den Kolchosen.

Um die kollektive Großlandwirtschaft zu heben, galt es von neuem mit dem Bauern die Sprache sprechen, die er versteht, d.h. von der Naturalsteuer zum Handel zurückzukehren und den Markt wiederherzustellen, mit einem Wort, vom Satan die ihm zu früh überlassene NEP zurückzufordern. Der Übergang zu einer mehr oder weniger stabilen Geldrechnung wurde somit die unerlässliche Vorbedingung für die künftige Entwicklung der Landwirtschaft.

Rehabilitierung des Rubels

Die Eule der Weisheit fliegt bekanntlich nach Sonnenuntergang aus. So entfaltete sich auch die Theorie des „sozialistischen“ Geld- und Preissystems nicht eher, als bis die Inflationsillusionen zu dämmern begannen. Gehorsame Professoren brachten es fertig, Stalins rätselhafte Worte zu einer ganzen Theorie auszubauen, wonach der Sowjetpreis. im Gegensatz zum Marktpreis, ausschließlich planmäßigen oder dirigierten Charakter trägt, d.h. keine ökonomische, sondern eine administrative Kategorie darstellt, um desto besser der Neuverteilung des Volkseinkommens im Interesse des Sozialismus zu dienen. Die Professoren vergaßen zu erklären, wie man denn den Preis „lenken“ kann, ohne die realen Gestehungskosten zu kennen, und wie denn die realen Gestehungskosten zu errechnen sind, wenn alle Preise den Willen der Bürokratie ausdrücken und nicht den Aufwand an gesellschaftlich notwendiger Arbeit. Zur Neuverteilung des Volkseinkommens verfügt die Regierung in der Tat schon über so machtvolle Hebel wie die Steuer, das Staatsbudget und das Kreditsystem. Nach dem Ausgabenbudget von 1936 werden mehr als 37,6 Milliarden unmittelbar und viele Milliarden indirekt auf die Finanzierung der verschiedenen Wirtschaftszweige verwandt. Der Budget- und Kreditmechanismus reicht vollkommen aus, um das Volkseinkommen planmäßig zu verteilen. Was die Preise betrifft, so werden sie der Sache des Sozialismus um so besser dienen, je ehrlicher sie die realen wirtschaftlichen Verhältnisse von heute zum Ausdruck bringen.

Die Erfahrung hat in dieser Hinsicht ihr entscheidendes Wort sprechen können. Der „dirigierte“ Preis sah im Leben durchaus nicht so eindrucksvoll aus wie in den Schulbüchern. Ein und dieselbe Ware wurde zu Preisen verschiedener Kategorien veranschlagt. In die breiten Ritzen zwischen diesen Kategorien schlichen sich mit Leichtigkeit alle Art Spekulation, Günstlingswesen, Schmarotzertum und ähnliche Übel ein, und dabei eher als Regel, als als Ausnahme. Zugleich damit wurde der Tscherwonez, der ein fester Schatten der stabilen Preise sein sollte, in Wirklichkeit zu seinem eigenen Schatten.

Wieder galt es, jäh den Kurs zu wechseln, diesmal infolge von Schwierigkeiten, die aus den Wirtschaftserfolgen erwachsen waren. Das Jahr 1935 begann mit der Abschaffung der Brotkarten, im Oktober wurden die Karten für die übrigen Nahrungsmittel abgeschafft, im Januar verschwanden auch die Karten für die industriellen Massenverbrauchsgegenstände. Die ökonomischen Beziehungen zwischen den Werktätigen von Stadt und Land und dem Staat, sowie untereinander, wurden in die Geldsprache übersetzt. Durch das Werkzeug des Rubels wirkt die Bevölkerung auf die Wirtschaftspläne ein, angefangen bei der Menge und Güte der Gebrauchsartikel. Auf keine andere Weise lässt sich die Sowjetwirtschaft rationalisieren.

Der Vorsitzende der Staatsplanbehörde erklärte im Dezember 1935: „Das heutige System der Wechselbeziehungen zwischen den Banken und der Wirtschaft muss revidiert werden, und die Banken müssen tatsächlich eine Kontrolle durch den Rubel ausüben“. So brachen der Aberglaube vom administrativen Plan und die Illusionen über die administrativen Preise zusammen. Wenn das Nahen des Sozialismus in der Geldsphäre bedeutet, dass der Rubel sich einer Verteilungskarte nähert, so müsste man die Reformen von 1935 folglich als eine Entfernung vom Sozialismus betrachten. In Wirklichkeit wäre aber eine solche Betrachtungsweise ein grober Fehler. Die Verdrängung der Karte durch den Rubel ist lediglich ein Verzicht auf Fiktionen und ein offenes Eingeständnis der Notwendigkeit, die Voraussetzungen für den Sozialismus durch eine Rückkehr zu den bürgerlichen Verteilungsmethoden zu schaffen.

Auf der Sitzung des Zentralexekutivkomitees der Sowjets vom Januar 1936 erklärte der Volkskommissar für Finanzen: „Der Sowjetrubel ist stabil wie keine andere Währung auf der Welt“. Es wäre nicht richtig, diese Erklärung nur als leere Prahlerei aufzufassen. Das Staatsbudget der UdSSR schließt jedes Jahr mit einem Überschuss der Einnahmen über die Ausgaben ab. Der Außenhandel, der freilich an sich unbedeutend ist, ergibt eine aktive Bilanz. Der Goldvorrat der Staatsbank, der 1926 ganze 164 Millionen Rubel betrug, übersteigt jetzt die Milliarde. Die Goldausbeute ist im Lande in raschem Steigen begriffen: 1936 schickt dieser Zweig sich an, die erste Stelle in der Welt zu erobern. Das Wachsen des Warenverkehrs ist seit der Wiederauferstehung des Marktes ungestüm zu nennen. Praktisch ist die Papiergeldinflation seit 1934 zum Stillstand gekommen, Elemente einer gewissen Stabilisierung des Rubels sind vorhanden. Nichtsdestoweniger muss man sich die Erklärung des Finanzkommissars in bedeutendem Masse aus einer Inflation des Optimismus erklären, Findet der Sowjetrubel im allgemeinen Aufschwung der Wirtschaft eine kräftige Stütze, seine Achillesferse sind die unerträglich hohen Gestehungskosten der Produktion. Die stabilste Währung wird der Rubel erst in dem Augenblick werden wenn die Produktivität der Sowjetarbeit die der übrigen Welt übertrifft, und wenn folglich die Todesstunde für den Sowjetrubel selber geschlagen hat.

Vom geldtechnischen Standpunkt kann der Rubel noch weniger den Vorrang beanspruchen. Bei einem Goldvorrat von mehr als einer Milliarde zirkulieren im Lande Geldscheine in einer Summe von rund acht Milliarden, die Deckung ist somit bloß 12,5%. Das Gold der Staatsbank stellt bis jetzt in viel größerem Maße eine unantastbare Reserve für den Kriegsfall dar als eine Basis für das Geldsystem. Theoretisch ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die Sowjets auf einer höheren Entwicklungsstufe zur Goldzirkulation greifen, um die inneren Wirtschaftspläne zu präzisieren und die Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland zu vereinfachen. Bevor das Geldsystem den Atem aufgibt, kann es also noch einmal im Schein des reinen Goldes erstrahlen. Doch das ist auf jeden Fall noch kein aktuelles Problem.

Von einem Übergang zur Goldparität kann in der nächsten Periode noch nicht die Rede sein, Insoweit jedoch die Regierung einen Goldfonds hamstert und bestrebt ist, den Prozentsatz einer auch nur rein theoretischen Deckung zu erhöhen, insoweit den Papiergeldemissionen objektive, vom Willen der Bürokratie unabhängige Grenzen gesteckt sind, kann der Sowjetrubel eine relative Stabilität erlangen. Schon das allein würde gewaltigste Vorteile bieten. Bei festem Verzicht auf Inflation in der Zukunft kann das Geldsystem, obgleich der Vorteile einer Goldparität beraubt, zweifellos dazu beitragen, viele tiefe Wunden zu heilen, die der bürokratische Subjektivismus in den vergangenen Jahren der Wirtschaft zugefügt hat.

Stachanowbewegung

„Ökonomie der Zeit“, sagt Marx, „darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf“, d.h. der gesamte menschliche Kampf mit der Natur auf allen Stufen der Zivilisation. In ihrem Anfangsgrund ist die Geschichte nichts anderes als eine Jagd nach Arbeitszeitersparnis. Der Sozialismus könnte nicht allein durch die Aufhebung der Ausbeutung gerechtfertigt sein: er soll der Gesellschaft, verglichen mit dem Kapitalismus, größere Zeitersparnis gewährleisten. Ohne Verwirklichung dieser Bedingung wäre selbst die Abschaffung der Ausbeutung nur eine dramatische Episode ohne Zukunft. Die erste in der Geschichte gemachte Erfahrung in der Anwendung sozialistischer Methoden offenbarte die ihnen innewohnenden großen Möglichkeiten. Aber die Sowjetwirtschaft hat noch längst nicht gelernt, wie man die Zeit, dieses kostbarste Rohmaterial der Kultur, nutzen soll. Die importierte Technik, das Hauptwerkzeug der Zeitersparnis, gibt auf dem Sowjetboden noch nicht die Resultate, die für sie in der kapitalistischen Heimat die Norm darstellen. In diesem, für die gesamte Zivilisation ausschlaggebenden Sinn hat der Sozialismus noch nicht gesiegt. Er hat bewiesen, dass er siegen kann und muss. Aber er hat noch nicht gesiegt. Alle gegenteiligen Behauptungen sind eine Frucht der Unwissenheit oder Schwindel.

Molotow, der – man muss ihm diese Gerechtigkeit widerfahren lassen – sich manchmal etwas freier von der rituellen Phrase zeigt als die anderen Sowjetführer, erklärte im Januar 1936 auf einer Sitzung des Zentralexekutivkomitees: „Das Durchschnittsniveau der Arbeitsproduktivität... bleibt bei uns noch erheblich hinter dem amerikanischen und europäischen zurück“. Es wäre angebracht gewesen, diese Worte zu präzisieren, beispielsweise: drei, fünf, zuweilen sogar zehnmal niedriger als in Europa und Amerika, dementsprechend sind bei uns die Gestehungskosten der Produktion bedeutend höher. In derselben Rede legte Molotow das allgemeinere Geständnis ab: „Das durchschnittliche Kulturniveau unserer Arbeiter steht hinter dem entsprechenden Niveau der Arbeiter mehrerer kapitalistischer Länder zurück“. Er hätte hinzufügen sollen: das durchschnittliche Lebensniveau ebenfalls. Es bedarf keiner Erläuterung, wie unbarmherzig diese beiläufig ausgesprochenen nüchternen Worte die prahlerischen Erklärungen zahlloser offizieller Autoritäten und die süßlichen Ergüsse der ausländischen „Freunde“ widerlegen!

Der Kampf um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität bildet neben der Sorge um die Verteidigung den Hauptinhalt der Tätigkeit der Sowjetregierung. Auf den verschiedenen Etappen in der Entwicklung der UdSSR nahm dieser Kampf verschiedene Formen an. Die in den Jahren des ersten Fünfjahresplans und zu Beginn des zweiten angewandten Methoden der „Stoßbrigaden waren gegründet auf Agitation, persönliches Beispiel, administrativen Druck, alle Art Gruppenwettbewerb und Gruppenprivilegien. Die Versuche, auf Grund der „sechs Bedingungen“ von 1931 so etwas wie Akkordlöhne einzuführen, scheiterten an der trügerischen Währung und der Vielfalt der Preise. Das System der staatlichen Verteilung der Produkte setzte an die Stelle einer geschmeidigen, differenzierten Arbeitsbewertung die sogenannten „Prämien“, die ihrem Wesen nach bürokratische Willkür bedeuteten. Auf der Jagd nach großen Privilegien drangen in die Kategorie der Stoßbrigadisten in steigender Anzahl gerissene Burschen ein, die durch Protektion stark wurden. Schließlich geriet das ganze System in glatten Widerspruch zum gesteckten Ziel.

Erst die Abschaffung des Kartensystems, die beginnende Stabilisierung des Rubels und die Vereinheitlichung der Preise schufen die Bedingungen zur Anwendung des Akkord- oder Stücklohns. Auf dieser Grundlage trat an die Stelle der Stoßbrigaden die sogenannte Stachanowbewegung. Auf der Jagd nach dem Rubel, der jetzt eine ganz reale Bedeutung bekommen hat, beginnen die Arbeiter, sich mehr um ihre Maschinen zu kümmern und die Arbeitszeit sorgfältiger auszunutzen. Die Stachanowbewegung beruht in sehr großem Masse auf der Intensivierung der Arbeit und sogar auf der Verlängerung der Arbeitszeit: in der sogenannten „Ruhe“zeit bringen die Stachanowisten die Werkbänke und Werkzeuge in Ordnung, bereiten sie das Rohmaterial zu, erteilen die Brigadenführer ihrer Brigade Anweisungen usw. Vom Siebenstundentag bleibt dabei oft nur der Name.

Nicht die Sowjetadministratoren haben das Geheimnis des Akkords entdeckt: dies System, bei dem man sich ohne sichtbaren äußeren Zwang zu Tode schindet, hielt Marx für „die der kapitalistischen Produktionsweise entsprechendste Form“. Die Arbeiter traten dieser Neuerung nicht nur ohne Sympathie entgegen, sondern direkt feindselig: es wäre widernatürlich, von ihnen ein anderes Verhalten zu erwarten. Die Teilnahme echter Enthusiasten des Sozialismus an der Stachanowbewegung ist unbestreitbar. Inwiefern sie an Zahl die einfachen Karrieristen und Wichtigtuer übertreffen, besonders in der Administration, ist schwer zu sagen. Doch die Hauptmasse der Arbeiter sieht den neuen Lohn vom Gesichtspunkt des Rubels, und oft muss sie feststellen, dass er eingeschrumpft ist.

Wenn auf den ersten Blick die Rückkehr der Sowjetregierung zum Akkord, nach dem „endgültigen und unwiderruflichen Sieg des Sozialismus“ als ein Rückschritt zu kapitalistischen Verhältnissen erscheinen mag, so gilt es hier zu wiederholen, was weiter oben von der Rehabilitierung des Rubels gesagt wurde; es handelt sich nicht um einen Verzicht auf den Sozialismus, sondern lediglich um die Liquidierung einiger grober Illusionen. Die Form des Arbeitslohns ist nur besser den realen Möglichkeiten des Landes angepasst worden: „Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung.“

Jedoch, die herrschende Schicht der Sowjetunion kann der sozialen Schminke bereits nicht mehr entbehren. Im Bericht auf der Sitzung des Zentralexekutivkomitees im Januar 1936 verkündete der Vorsitzende der Staatsplankommission Meschlauk: „Der Rubel wird das einzige und wahre Mittel zur Verwirklichung des sozialistischen (!) Prinzips des Arbeitslohns“. Wenn in den alten Monarchien alles, einschließlich der Bedürfnisanstalten, für königlich erklärt wurde, so folgt daraus noch nicht, dass im Arbeiterstaat alles von selbst sozialistisch wird. Der Rubel ist das „einzige und wahre Mittel“ zur Verwirklichung des kapitalistischen Prinzips des Arbeitslohns und sei es auch auf der Grundlage sozialistischer Eigentumsformen: dieser Widerspruch ist uns bereits bekannt. Zur Begründung des neuen Mythus vom „sozialistischen“ Stücklohn fügte Meschlauk hinzu: „Das Grundprinzip des Sozialismus ist darin enthalten, dass jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitet und nach der von ihm geleisteten Arbeit bezahlt wird“. Wahrlich, diese Herren machen mit der Theorie wenig Umstände! Wenn das Arbeitstempo durch die Jagd nach dem Rubel bestimmt wird, dann verausgaben sich die Menschen nicht „nach ihren Fähigkeiten“, d.h. nicht nach Maßgabe ihrer Muskel- und Nervenkraft, sondern tun sich Gewalt an. Diese Methode kann man bedingt nur durch einen Hinweis auf die harte Notwendigkeit rechtfertigen; sie aber zum „Grundprinzip des Sozialismus“ erklären, heißt die Idee der neuen, höheren Kultur zynisch in den gewohnten Schmutz des Kapitalismus treten.

Stalin geht auf diesem Weg noch einen Schritt weiter, indem er die Stachanowbewegung als eine „Vorbereitung der Bedingungen für den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus“ darstellt, Der Leser wird jetzt sehen, wie wichtig es war, den Begriffen, deren man sich in der Sowjetunion je nach der administrativen Bequemlichkeit bedient, eine wissenschaftliche Definition zu geben. Der Sozialismus oder unteres Stadium des Kommunismus erfordert zwar noch strenge Kontrolle über das Maß der Arbeit und das Maß des Verbrauchs, setzt aber jedenfalls rnenschlichere Kontrollformen voraus, als die vom Ausbeutergenie des Kapital ersonnenen. Indes, in der UdSSR wird heutzutage ein rückständiges Menschenmaterial mit unerbittlicher Härte an die vom Kapitalismus entlehnte Technik gespannt. Im Kampf um die Erreichung der europäischen und amerikanischen Normen werden klassische Ausbeutungsmethoden wie Akkordlohn in so nackter und roher Form angewandt, wie es selbst reformistische Gewerkschaften in bürgerlichen Ländern nicht zulassen würden. Der Einwand, dass in der UdSSR die Arbeiter „für sich“ arbeiten, ist nur in der historischen Perspektive richtig, und lediglich unter der Bedingung – um es vorweggreifend schon hier zu sagen – dass die Arbeiter sich nicht länger von einer allmächtigen Bürokratie unterjochen lassen. Auf jeden Fall, das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln verwandelt nicht Mist in Gold und umgibt nicht das Schwitzsystem. das mit der Hauptproduktivkraft, dem Menschen, Raubbau treibt mit einem Heiligenschein. Was aber die Vorbereitung des „Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus“ betrifft, so beginnt sie gerade am entgegengesetzten Ende, d.h. nicht bei der Einführung des Stücklohns, sondern bei seiner Abschaffung als ein Erbe der Barbarei.

Die Bilanz der Stachanowbewegung zu ziehen, ist jetzt noch zu früh. Dafür kann man aber schon die Züge erkennen, die nicht nur für diese Bewegung, sondern für das Regime als Ganzes charakteristisch sind. Gewisse Leistungen einzelner Arbeiter sind zweifellos von hohem Interesse, da sie die Möglichkeiten anzeigen, die allein dem Sozialismus zugänglich sind. Jedoch. von diesen Möglichkeiten bis zu ihrer Verwirklichung in der gesamten Wirtschaft bleibt noch ein sehr großer Schritt. Bei enger Abhängigkeit der verschiedenen Produktionsprozesse voneinander kann eine ununterbrochen hohe Arbeitsleistung nicht Sache bloßer individueller Bemühungen sein. Die Erhöhung der Durchschnittsleistung ist unmöglich ohne Reorganisierung der Produktion in der Fabrik selbst, wie der Beziehungen zwischen den Betrieben. Die technische Befähigung von Millionen um einige Grade heben ist unermesslich schwieriger, als Tausende Fortgeschrittener anzustacheln.

Die Führer selber klagen zuweilen, dass dem Sowjetarbeiter Arbeitskultur fehlt. Jedoch ist das nur die Hälfte der Wahrheit, und dabei die kleinere. Der russische Arbeiter ist empfänglich, findig und begabt. Beliebige hundert Sowjetarbeiter würden, in die Bedingungen sagen wir der amerikanischen Industrie versetzt, nach wenigen Monaten, ja Wochen, wahrscheinlich nicht hinter den amerikanischen Arbeitern der entsprechenden Kategorien zurückstehen. Das Schwierige ist eben die allgemeine Organisierung der Arbeit. Das Sowjetverwaltungspersonal bleibt in der Regel hinter den modernen Produktionsaufgaben noch weiter zurück als die Arbeiter.

Bei der neuen Technik muss der Akkordlohn unvermeidlich eine systematische Hebung der heute ungemein niedrigen Arbeitsproduktivität mit sich bringen. Doch die Schaffung der dafür notwendigen elementaren Voraussetzungen erfordert eine Hebung auch des Verwaltungsniveaus, vom Werkmeister bis zum Kremlführer. Die Stachanowbewegung wird dieser Forderung nur in geringem Masse gerecht. Die Bürokratie ist verhängnisvollerweise bestrebt, über die Schwierigkeiten, deren sie nicht Herr zu werden vermag, einfach hinwegzuspringen. Da der Akkordlohn von allein nicht die von ihm erwarteten Wunder vollbringt, kommt ihm toller administrativer Druck zu Hilfe: Prämien und Reklame einerseits. Strafen andererseits.

Die ersten Schritte der Bewegung waren von Massenrepressalien gegen Ingenieure, technisches Personal und Arbeiter begleitet, denen Widerstand, Sabotage, in einigen Fällen sogar Mord an Stachanowleuten zur Last gelegt wurde. Die Härte der Repressalien war ein Zeugnis für die Stärke des Widerstands. Die Obrigkeit erklärte die sogenannte „Sabotage“ aus politischer Opposition; in Wirklichkeit wurzelt sie meistens in den technischen, ökonomischen und kulturellen Hindernissen, von denen ein gut Teil aufs Konto der Bürokratie zu schreiben ist. Die „Sabotage“ war offenbar bald gebrochen: die Unzufriedenen hatten Angst, die Klarblickenden schwiegen. Es regnete Telegramme von unerhörten Leistungen. In der Tat, insofern es sich um einzelne Pioniere handelte, richteten die lokalen Verwaltungsstellen, dem Befehl gehorchend, ihnen die Arbeit mit außerordentlicher Zuvorkommenheit ein, und sei es auch auf Kosten der Interessen aller übrigen Arbeiter des Schachtes oder der Fabrik. Doch sobald sich Hunderte und Tausende Arbeiter als „Stachanowisten“ melden, kommt die Verwaltung arg in Verlegenheit. Da sie es weder versteht, noch dazu die objektive Möglichkeit besitzt, in kurzer Frist das Produktionsregime in Ordnung zu bringen, versucht sie, der Arbeitskraft und der Technik Gewalt anzutun. Wenn der Mechanismus der Uhr stockt, geht man den Rädchen mit einem Nagel zu Leibe. Das Ergebnis der „Stachanow“tage und „Stachanow“dekaden ist im Leben vieler Betriebe nur ein vollständiges Chaos. So erklärt sich die auf den ersten Blick verblüffende Tatsache, dass die Zunahme der Stachanowistenzahl häufig nicht von einer Erhöhung, sondern einer Senkung der allgemeinen Leistung des betreffenden Betriebes begleitet ist.

Heute ist die „heroische“ Periode dieser Bewegung offenbar vorbei. Der Alltag beginnt. Es gilt zu lernen. Besonders viel müssen die lernen, die andere lehren. Aber gerade diese wollen am wenigsten lernen. Die gesellschaftliche Abteilung, die die anderen Abteilungen der Sowjetwirtschaft zurückhält und lähmt, heißt: Bürokratie.


Kapitel V:
Sowjetthermidor