Anhang I: Sozialismus in einem Land



Die reaktionären Tendenzen der Autarkie sind ein Abwehrreflex des greisen Kapitalismus auf die von der Geschichte gestellte Aufgabe: die Wirtschaft aus den Fesseln des Privateigentums und des Nationalstaats zu befreien und auf der ganzen Oberfläche unseres Planeten planmäßig zu organisieren.

In Lenins Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes, die vom Rat der Volkskommissare der konstituierenden Versammlung in den paar Stunden ihres Daseins zur Annahme vorgelegt wurde, wird die „Grundaufgabe“ der neuen Ordnung folgendermaßen definiert: „Errichtung einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft und Sieg des Sozialismus in allen Ländern.“ Der internationale Charakter da Revolution wurde somit in der Gründungsurkunde des neuen Regimes niedergelegt. Niemand hätte damals gewagt, das Problem anders zu stellen! Im April 1924, drei Monate nach Lenins Tod, schrieb Stalin in seiner zusammengestoppelten Broschüre Die Grundlagen des Leninismus: „Zum Sturz der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes – davon zeugt die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Sieg des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion, genügen nicht die Anstrengungen eines Landes, zumal eines Bauernlandes wie Russland – dazu sind die Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig“. Diese Zeilen sind keiner Erläuterung bedürftig. Dafür wurde die Auflage, in der sie stehen, aus dem Verkehr gezogen.

Die schweren Niederlagen des europäischen Proletariats und die ersten, noch sehr bescheidenen Wirtschaftserfolge der Sowjetunion brachten Stalin im Herbst 1924 auf den Gedanken, die historische Aufgabe der Sowjetbürokratie sei der Aufbau des Sozialismus in einem Lande. Um diese Frage entbrannte eine Diskussion, die vielen oberflächlichen Geistern akademisch oder scholastisch erschien: in Wirklichkeit aber strahlte sie die beginnende Entartung der Dritten Internationale wieder und bereitete die Vierte vor.

Der uns bereits bekannte ehemalige Kommunist und heutige weiße Emigrant Petrow erzählt aus eigener Erinnerung, wie heftig die junge Generation der Administratoren sich gegen die Lehre sträubte, wonach die UdSSR von der internationalen Revolution abhinge. „Wieso sollen wir denn mit der Stiftung eines glücklichen Lebens in unserem Lande nicht selber fertig werden?“ Wenn es bei Marx anders steht, dann sind wir „eben keine Marxisten, sondern russische Bolschewiki, und basta“. Diesen Erinnerungen aus der Mitte der zwanziger Jahre fügt Petrow hinzu: „Heute muss ich doch denken, die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Lande ist nicht bloß Stalins Erfindung“. Ganz richtig! Sie war ein fehlerloses Abbild der Stimmung der Bürokratie: wenn diese vom Sieg des Sozialismus sprach, meinte sie damit ihren eigenen Sieg.

Um den Bruch mit der marxistischen Tradition des Internationalismus zu begründen, beging Stalin die Unvorsichtigkeit. sich darauf zu berufen, Marx und Engels hätten das Gesetz... von der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus nicht gekannt, das angeblich zuerst von Lenin entdeckt wurde. In einem Katalog geistiger Kuriosa gebührte dieser Behauptung eine der ersten Stellen. Ungleichheit der Entwicklung ist in der ganzen Geschichte der Menschheit. besonders aber in der des Kapitalismus zu beobachten. Der Junge russische Historiker und Ökonom Solnzew, ein Mann von außergewöhnlicher Begabung und hohen Sitten, der in den Gefängnissen der Sowjetbürokratie wegen seiner Zugehörigkeit zur linken Opposition in den Tod gehetzt wurde, schrieb 1926 eine ausgezeichnete theoretische Arbeit über das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung bei Marx: es versteht sich von selbst, dass diese Arbeit in der Sowjetunion nicht erscheinen konnte. Mit Verbot wurde auch, freilich aus umgekehrten Erwägungen heraus, eine Arbeit des längst verstorbenen und vergessenen deutschen Sozialdemokraten Vollmar belegt, der bereits 1878 die Perspektive eines „isolierten sozialistischen Staates“ entwickelte – nicht für Russland, sondern für Deutschland – unter Hinweis auf das vor Lenin angeblich unbekannte „Gesetz“ der ungleichmäßigen Entwicklung.

„Der Sozialismus setzt unbedingt wirtschaftlich entwickelte Verhältnisse voraus“, schrieb Georg Vollmar „und käme es nur auf letztere an, so müsste er da am mächtigsten sein, wo die wirtschaftliche Entwicklung am größten ist. Das ist aber keineswegs der Fall, England ist gewiss das wirtschaftlich entwickelte Land: trotzdem sehen wir in ihm den Sozialismus eine ganz untergeordnete Rolle spielen, während derselbe in dem ökonomisch minder entwickelten Deutschland bereits eine solche Macht ist, dass sich die ganze alte Gesellschaft nicht mehr sicher wähnt...“ Vollmar weist auf die Vielfalt der historischen Faktoren hin, die den Gang der Ereignisse bestimmen, und fährt fort: „Dass beim Zusammenwirken so zahlreicher Kräfte die Entwicklung irgendeiner allgemein menschlichen Bewegung bisher kaum in ein paar Ländern, geschweige denn in allen... eine nach Zeit und Raum gleichartige sein... kann,... ist klar. Und demselben Gesetz wird auch der Sozialismus unterliegen... [Es] erscheint so die Annahme eines gleichzeitigen Sieges des Sozialismus in allen Kulturländern als schlecht- hin ausgeschlossen; nicht weniger, und aus denselben Gründen aber auch die, dass dem Beispiel eines sozialistisch organisierten Staates notwendig sofort alle anderen zivilisierten Staaten folgen würden... Damit wären wir also“, schließt Vollmar, „auf den isolierten sozialistischen Staat gekommen und hätten in ihm den verhältnismäßig sichersten Anhaltspunkt gefunden“. In dieser Arbeit, die geschrieben wurde, als Lenin acht Jahre alt war, ist das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung viel richtiger dargestellt als bei den Sowjetepigonen seit Herbst 1924. Man muss übrigens bemerken, dass Vollmar, ein durchaus zweitrangiger Theoretiker, in diesem Teil seiner Untersuchung lediglich einen Gedanken von Engels wiedergibt, dem das Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus angeblich „unbekannt“ geblieben sei,

Der „isolierte sozialistische Staat“ ist aus einer historischen Hypothese längst Tatsache geworden, freilich nicht in Deutschland, sondern In Russland. Aber die Tatsache der Isolierung ist ja gerade ein Ausdruck für die relative Stärke des Weltkapitalismus und die relative Schwäche des Sozialismus. Vom isolierten „sozialistischen“ Staat bis zur sozialistischen Gesellschaft, die für immer mit dem Staat Schluss gemacht haben wird, ist ein langer historischer Weg, der eben mit dem der internationalen Revolution zusammenfällt.

Beatrice und Sidney Webb wollen uns ihrerseits weismachen, Marx und Engels hätten nur deshalb nicht an die Möglichkeit des Aufbaus einer isolierten sozialistischen Gesellschaft geglaubt, weil sie sich eine so mächtige Waffe wie das Außenhandelsmonopol nicht hatten träumen lassen („neither Marx nor Engels had ever dreamt“). Man kann diese Zeilen nicht ohne ein peinliches Gefühl gegenüber den betagten Autoren lesen. Die Verstaatlichung der Handelsbanken und -gesellschaften, der Eisenbahnen und der Handelsflotte ist eine ebenso notwendige Maßnahme der sozialistischen Revolution wie die Nationalisierung der Produktionsmittel, darunter auch der Ausfuhrindustriezweige. Das Außenhandelsmonopol ist nichts anderes als eine Zusammenfassung der materiellen Aus- und Einfuhrmittel in den Händen des Staats. Zu sagen, Marx und Engels hätten sich das Außenhandelsmonopol nicht „träumen lassen“, heißt, dass sie sich die sozialistische Revolution nicht träumen ließen. Zu allem Übel bezeichnet Vollmar in seiner Arbeit das Außenhandelsmonopol vollkommen richtig als eine der wichtigsten Waffen des „isolierten sozialistischen Staats“. Marx und Engels müssten also dies Geheimnis von Vollmar erfahren haben, hätte dieser es nicht selbst vorher von ihnen erfahren.

Die „Theorie“ vom Sozialismus in einem Lande, die Stalin, nebenbei bemerkt, nirgends dargestellt oder begründet hat, ließe sich auf den recht sterilen und ungeschichtlichen Gedanken zurückführen, dass die sozialistische Gesellschaft dank der Naturreichtümer des Landes in den geographischen Grenzen der UdSSR errichtet werden könne. Mit demselben Recht dürfte man behaupten, der Sozialismus könne auch siegen, falls die Bevölkerung der Erde zwölfmal kleiner wäre als sie ist. In Wirklichkeit jedoch beabsichtigte die neue Theorie, dem gesellschaftlichen Bewusstsein ein konkreteres System von Ansichten zu suggerieren, nämlich: die Revolution ist endgültig abgeschlossen, die sozialen Gegensätze werden sich unaufhörlich mildern, der Kulak unmerklich in den Sozialismus hineinwachsen, die Entwicklung im ganzen – unabhängig von den Ereignissen der äußeren Welt – friedlich und planmäßig verlaufen. Bucharin versuchte, die neue Theorie zu begründen, indem er als unerschütterlich bewiesen verkündete: „Wir werden trotz der Klassenunterschiede innerhalb unseres Landes und trotz unserer technischen Zurückgebliebenheit nicht untergehen, wir können den Sozialismus selbst auf dieser armseligen technischen Grundlage aufbauen, das Wachsen des Sozialismus wird viel, viel langsamer gehen, wir werden im Schneckentempo dahinkriechen, und doch werden wir an diesem Sozialismus bauen, ja ihn gänzlich errichten“. Merken wir uns diese Formulierung: „den Sozialismus selbst auf dieser armseligen technischen Grundlage aufbauen“, und erinnern wir nochmals an die geniale Vorahnung des jungen Marx, der sagte, auf niedriger technischer Grundlage werde „ nur der Mangel verallgemeinert, also auch mit der Notdurft der alte Streit um das Notwendige wieder und die ganze alte Scheiße sich herstellen.“

Im April 1926 brachte die linke Opposition auf des Plenarsitzung des Zentralkomitees folgenden Antrag zur Theorie des Schneckentempos ein; „Es wäre von Grund auf falsch zu glauben, man könne unter kapitalistischer Umklammerung in willkürlichem Tempo auf den Sozialismus zugehen. Ein weiterer Vormarsch zum Sozialismus wird nur unter der Bedingung gewährleistet sein, dass der Abstand zwischen unserer Industrie und der des fortgeschrittenen Kapitalismus eindeutig und fühlbar kleiner und nicht größer wird.“ Stalin nannte ganz mit Recht diesen Antrag eine „verschleierte Attacke“ auf die Theorie des Sozialismus in einem Lande und lehnte kategorisch selbst die Tendenz ab, das Tempo des inneren Aufbaus mit den Bedingungen der internationalen Entwicklung zu verknüpfen. Laut dem Stenogramm des Plenums sagte er wortwörtlich: „Wer hier den internationalen Faktor einflicht, der versteht überhaupt die eigentliche Fragestellung nicht, der verwirrt die Frage entweder aus Unverständnis für die Sache oder absichtlich“. Der Antrag der Opposition wurde abgelehnt.

Aber die Illusion eines im Schneckentempo, auf armseliger Grundlage und umgeben von mächtigen Feinden erbauten Sozialismus hat den Schlägen der Kritik nicht lange standgehalten. Im November desselben Jahres gab die 15. Parteikonferenz, ohne die geringste Vorbereitung in der Presse, die Notwendigkeit zu, „in verhältnismäßig (?) minimaler historischer Frist den Stand der industriellen Entwicklung der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einzuholen und dann auch zu überholen“. Die linke Opposition jedenfalls war „überholt“ worden. Aber mit der Losung, die ganze Welt in „minimaler Frist“ einzuholen und zu überholen, wurden die gestrigen Theoretiker des Schneckentempos Gefangene eben des „internationalen Faktors“, der der Sowjetbürokratie eine derart abergläubische Angst einflößt. So wurde binnen acht Monaten die erste, klarste Version der Stalinschen Theorie begraben.

Der Sozialismus wird den Kapitalismus unweigerlich auf allen Gebieten „überholen“ müssen, schrieb die linke Opposition in einem März 1927 illegal verbreiteten Dokument. „Aber jetzt handelt es sich nicht um das Verhältnis des Sozialismus zum Kapitalismus überhaupt, sondern um die ökonomische Entwicklung der UdSSR im Verhältnis zu Deutschland, England und den Vereinigten Staaten. Was ist unter „minimaler historischer Frist“ zu verstehen? Im Laufe einiger weiterer Fünfjahrespläne werden wir noch entfernt nicht den Stand der fortgeschrittenen Länder des Westens erreichen. Was wird in dieser Zeit mit der kapitalistischen Welt geschehen?... Hält man es für möglich, dass sie eine neue jahrzehntelange Blütezeit erlebt, dann ist es eine erbärmliche Abgeschmacktheit, von Sozialismus zu reden, dann wird man sagen müssen, dass wir uns in der Einschätzung der ganzen Epoche als einer Epoche der kapitalistischen Fäulnis geirrt haben, dann wäre die Sowjetunion nach der Pariser Kommune das zweite Experiment einer Diktatur des Proletariats, ein größeres und fruchtbareres, aber nur ein Experiment ... Sind jedoch irgendwelche ernst zu nehmenden Gründe vorhanden, unsere Ansichten über unsere ganze Epoche und den Sinn der Oktoberrevolution als ein Glied der Weltrevolution so entscheidend zu revidieren? Nein!... Nachdem die kapitalistischen Staaten mehr oder weniger ihre Wiederaufbauperiode (nach dem Kriege) beendet haben,... stellen sie, und zwar in ungleich zugespitzterer Form als vor dem Kriege, alle ihre alten inneren und internationalen Widersprüche wieder her. Das eben ist die Grundlage für die proletarische Revolution. Dass wir am Sozialismus bauen, ist Tatsache. Aber eine nicht geringere, sondern größere Tatsache, sofern das Ganze überhaupt größer ist als der Teil, ist die Vorbereitung der europäischen und der Weltrevolution. Der Teil wird nur zusammen mit dem Ganzen siegen... Das europäische Proletariat braucht für den Anlaut zur Machtergreifung viel weniger Zeit, als wir brauchen, um Europa und Amerika technisch einzuholen ... Wir müssen inzwischen systematisch den Abstand zwischen unserer Arbeitsproduktivität und der der Welt verringern. Je weiter wir vorrücken, um so ungefährlicher ist für uns die mögliche Intervention niedriger Preise und folglich auch die Militärintervention ... Je höher wir den Lebensstandard der Arbeiter und Bauern schrauben, um so gewisser werden wir die proletarische Revolution in Europa beschleunigen, um so rascher wird diese Revolution uns um die Welttechnik bereichern, um so sicherer und vollständiger wird unser sozialistischer Aufbau als Teil des europäischen und des internationalen Aufbaus erfolgen“. Dies Dokument blieb wie alle anderen ohne Erwiderung, es sei denn, man betrachte Ausschlüsse aus der Partei und Verhaftungen als eine Erwiderung.

Nach dem Verzicht auf das Schneckentempo hieß es, auch von dem damit verbundenen Gedanken des Hineinwachsens des Kulaken in den Sozialismus Abstand nehmen. Die administrative Zerschlagung des Kulakentums gab jedoch der Theorie vom Sozialismus in einem Lande neue Nahrung: sind die Klassen „im wesentlichen“ vernichtet, dann ist der Sozialismus „im wesentlichen“ verwirklicht (1931). Im Grunde genommen war damit die Konzeption von der sozialistischen Gesellschaft „auf armseliger Grundlage“ wieder zur Geltung gelangt. Just in jenen Tagen erklärte, wie wir uns erinnern, ein halbamtlicher Journalist, dass sich das Fehlen von Milch für die Kinder aus dem Mangel an Kühen erkläre, beileibe nicht aus Mängeln des sozialistischen Systems.

Die Sorge um die Arbeitsproduktivität erlaubte jedoch nicht, lange an den beruhigenden Formulierungen von 1931 festzuhalten, die als moralischer Trost für die Verwüstungen der restlosen Kollektivierung zu dienen hatten. „Manche meinen“, erklärte Stalin plötzlich anlässlich der Stachanowbewegung, „man könne den Sozialismus durch eine gewisse materielle Gleichmachung der Menschen auf der Grundlage eines Betteldaseins festigen. Das ist unwahr ... In Wirklichkeit kann der Sozialismus nur auf der Grundlage hoher Arbeitsproduktivität siegen, einer höheren als unter dem Kapitalismus“. Vollkommen richtig! Jedoch zur selben Zeit definiert das neue Komsomolprogramm, im April 1936 auf der Sitzung, wo dem Komsomol die letzten kümmerlichen politischen Rechte weggenommen wurden, das soziale Wesen der UdSSR mit folgenden kategorischen Worten: „Die ganze Volkswirtschaft ist sozialistisch geworden“. Niemand kümmert sich darum, diese einander widersprechenden Konzeptionen in Einklang zu bringen. Je nach den Bedürfnissen des Augenblicks wird die eine oder die andere in Umlauf gesetzt. Kritik wagt ohnehin niemand.

Warum ein neues Programm eigentlich notwendig war, das begründete der vortragende Jungkommunist folgendermaßen: „Das alte Programm enthält die ganz verkehrte, antileninistische Behauptung, dass Russland nur durch die proletarische Weltrevolution zum Sozialismus gelangen kann. Dieser Programmpunkt ist grundfalsch: darin kamen trotzkistische Ansichten zum Ausdruck“, d.h. Ansichten, die Stalin noch im April 1924 verteidigte. Dunkel bleibt jedenfalls, wieso das Programm, das 1921 von Bucharin geschrieben und vom Politbüro unter Lenins Mitwirkung sorgfältig geprüft wurde, sich nach fünfzehn Jahren als „trotzkistisch“ herausstellt und im umgekehrten Sinn revidiert zu werden verlangt! Doch logische Argumente sind machtlos, wo es um Interessen geht. Nachdem die Bürokratie sich vom Proletariat des eigenen Landes unabhängig gemacht hat, kann sie die Abhängigkeit der UdSSR von dem Weltproletariat nicht zugeben.

Das Gesetz von der Ungleichmäßigkeit bewirkte, dass die Weltkette am Widerspruch zwischen der Technik und den Besitzverhältnissen des Kapitalismus in ihrem schwächsten Gliede riss. Der rückständige russische Kapitalismus hatte als erster für den Bankrott des Weltkapitalismus zu zahlen. Zum Gesetz de ungleichmäßigen Entwicklung gesellt sich im ganzen Verlauf der Geschichte das Gesetz der kombinierten Entwicklung. Der Zusammenbruch der Bourgeoisie in Russland hatte eine proletarische Diktatur zur Folge, d.h. den Sprung eines rückständigen Landes nach vorn, verglichen mit den fortgeschrittenen Ländern. Allein, die Schaffung sozialistischer Eigentumsformen in einem rückständigen Lande stieß sich am unzureichenden Niveau der Technik und der Kultur. Selbst dem Widerspruch zwischen hochentwickelten Weltproduktivkräften und kapitalistischem Eigentum entsprungen, erzeugte die Oktoberrevolution ihrerseits den Widerspruch zwischen den niedrigen nationalen Produktivkräften und dem sozialistischen Eigentum.

Die Isoliertheit der Sowjetunion hatte allerdings nicht unmittelbar jene bösen Folgen, die man befürchten konnte: die kapitalistische Welt war zu desorganisiert und zu gelähmt, um ihre potentielle Stärke im ganzen Umfang spielen zu lassen. Die „Atempause“ dauerte länger, als kritischer Optimismus zu hoffen erlaubte. Jedoch Isoliertheit und Unmöglichkeit, die Hilfsquellen der Weltwirtschaft sei es auch nur auf kapitalistischer Basis auszunutzen (der Außenhandel ging seit 1913 auf ein Viertel bis ein Fünftel zurück), zogen neben riesigen Wehrausgaben eine äußerst ungünstige Verteilung der Produktivkräfte und eine nur sehr langsame Zunahme des Lebensstandards der Massen nach sich. Doch das bösartigste Produkt der Isoliertheit und Rückständigkeit ist der Würger Bürokratismus.

Die von der Revolution geschaffenen gesetzlichen und politischen Normen wirken einerseits progressiv auf die rückständige Wirtschaft und unterliegen andererseits selbst dem niederzerrenden Einfluss der Rückständigkeit. Je länger die UdSSR in kapitalistischer Umkreisung verbleibt, um so tiefer wird der Entartungsprozess das gesellschaftliche Gewebe erfassen. Weitere Isolierung müsste unweigerlich nicht in einem Nationalkommunismus, sondern in der Restauration des Kapitalismus ausmünden.

Wie die Bourgeoisie nicht friedlich in die sozialistische Demokratie hineinwachsen kann, so kann auch ein sozialistischer Staat nicht friedlich in das kapitalistische Weltsystem hineinwachsen. Auf der Tagesordnung der Geschichte steht nicht die friedliche sozialistische Entwicklung „eines Landes“, sondern eine lange Kette welterschütternder Kriege und Revolutionen, Erschütterungen sind auch im inneren Leben der UdSSR unvermeidlich. Wie die Bürokratie im Kampf um die Planwirtschaft den Kulaken entkulakisieren musste, so wird das Proletariat im Kampf um den Sozialismus die Bürokratie entbürokratisieren müssen. Auf ihren Grabstein wird es meißeln: „Hier ruht die Theorie vom Sozialismus in einem Lande“.




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