Das Übergangsregime
Ist es wahr, dass in der UdSSR, wie die offiziellen Autoritäten behaupten, der Sozialismus bereits verwirklicht ist? Wenn nicht, gewährleisten dann wenigstens die erzielten Fortschritte, ihn in den nationalen Grenzen zu verwirklichen, unabhängig vom Gang des Ereignisse in der übrigen Welt? Die weiter oben angestellte kritische Wertung der wichtigsten Merkmale der Sowjetwirtschaft soll uns zum Ausgangspunkt dienen für eine richtige Antwort auf diese Frage. Doch können Wir nicht umhin, vorher noch eine theoretische Untersuchung anzustellen.
Der Marxismus geht aus von der Entwicklung der Technik als der Haupttriebfeder des Fortschritts und baut das kommunistische Programm auf der Dynamik der Produktivkräfte auf. Angenommen, eine kosmische Katastrophe würde über kurz oder lang unseren Planeten zerstören, so müsste man auf die kommunistische Perspektive, wie auf vieles andere verzichten. Von dieser vor der Hand noch problematischen Gefahr abgesehen, ist nicht der geringste wissenschaftliche Grund vorhanden, im voraus unseren technischen, produktiven und kulturellen Möglichkeiten irgendwelche Grenzen zu stecken. Der Marxismus ist zutiefst vom Optimismus des Fortschritts durchdrungen und – beiläufig gesagt – schon dadurch allein unversöhnlicher Gegner der Religion.
Die materielle Voraussetzung des Kommunismus muss eine so hohe Entwicklung der ökonomischen Macht des Menschen sein, dass die produktive Arbeit aufhört, Last und Mühsal zu bedeuten, und der Antreiberei nicht mehr bedarf; und die Verteilung der ständig im Überfluss vorhandenen Lebensgüter – wie heutzutage in wohlhabenden Familien oder in einer „anständigen“ Pension – keiner anderen Kontrolle bedarf als der der Erziehung, der Gewohnheit, der öffentlichen Meinung. Es gehört schon, offen gesagt, eine tüchtige Dosis Stumpfsinn dazu, diese letzten Endes bescheidene Perspektive für „utopisch“ zu halten.
Der Kapitalismus hat die Bedingungen und Kräfte für die soziale Umwälzung vorbereitet: Technik. Wissenschaft, Proletariat. Die kommunistische Ordnung kann jedoch die bürgerliche Gesellschaft nicht unmittelbar ablösen: dazu reicht das materielle und kulturelle Erbe der Vergangenheit noch keineswegs. In der ersten Zeit kann der Arbeiterstaat noch nicht einem jeden gestatten, „nach seinen Fähigkeiten“ zu arbeiten, d.h. soviel er kann und mag, noch einem jeden „nach seinen Bedürfnissen“, unabhängig von der geleisteten Arbeit, entlohnen. Im Interesse einer Steigerung der Produktivkräfte ist es erforderlich, zu den gewohnten Normen des Arbeitslohns zu greifen. d.h. zur Verteilung der Lebensgüter nach Menge und Beschaffenheit der individuellen Arbeit.
Marx nannte diese Anfangsetappe der neuen Gesellschaft die „erste Phase der kommunistischen Gesellschaft“, zum Unterschied vom höheren, wo mit den letzten Gespenstern der Not die materielle Ungleichheit verschwinden wird. Im gleichen Sinne werden oft Sozialismus und Kommunismus als das untere und obere Stadium der neuen Gesellschaft einander gegenübergestellt. „Wir sind natürlich noch nicht im vollendeten Kommunismus“, lautet die offizielle Sowjetdoktrin von heute, „dafür ist aber bei uns bereits der Sozialismus verwirklicht, d.h. das untere Stadium des Kommunismus“. Zum Beweis werden dann angeführt die Herrschaft der Staatstrusts in der Industrie, der Kolchosen in der Landwirtschaft, der Staats- und Genossenschaftsunternehmen im Handel. Auf den ersten Blick also scheinbar völliges Übereinstimmen mit Marxens apriorischem – und darum hypothetischem – Schema. Aber gerade vom Standpunkt des Marxismus erschöpft sich die Frage keineswegs mit den Eigentumsformen, unabhängig von der erreichten Arbeitsproduktivität. Unter dem unteren Stadium des Kommunismus verstand Marx jedenfalls eine Gesellschaft, die von Anfang an ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gemäß über dem fortgeschrittenen Kapitalismus steht. Theoretisch ist diese Fragestellung einwandfrei, denn im Weltmaßstab gesehen bedeutet der Kommunismus sogar in seinem ersten Anfangsstadium eine höhere Entwicklungsstufe im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft. Übrigens erwartete Marx, die sozialistische Revolution werde von den Franzosen begonnen, von den Deutschen fortgesetzt und von den Engländern abgeschlossen werden: was die Russen betrifft, so blieben sie weit zurück in der Nachhut. Doch in der Wirklichkeit kam es umgekehrt. Wer heute Marxens universalhistorische Konzeption mechanisch auf den Sonderfall UdSSR in ihrer gegenwärtigen Entwicklungsstufe anzuwenden versuchte, wird sich alsbald in unentwirrbare Widersprüche verstricken.
Russland war nicht das stärkste, sondern das schwächste Glied in der Kette des Kapitalismus. Die heutige UdSSR überragt nicht das Weltwirtschaftsniveau, sondern holt erst die kapitalistischen Länder ein.
Wenn Marx als unteres Stadium des Kommunismus die Gesellschaft bezeichnete, die auf Grund der Vergesellschaftung der Produktivkräfte des für seine Epoche am meisten fortgeschrittenen Kapitalismus entstehen sollte, so ist diese Bezeichnung augenscheinlich nicht auf die Sowjetunion zugeschnitten, die heute noch, was Technik, Lebensgüter und Kultur anbelangt, viel ärmer ist als die kapitalistischen Länder. Richtiger wäre darum, das heutige Sowjetregime in all seiner Widersprüchlichkeit nicht als sozialistisches, sondern als vorbereitendes oder Übergangsregime zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu bezeichnen.
In dieser Sorge um terminologische Genauigkeit ist nicht ein Tropfen Pedanterie. Kraft und Bestand eines Regimes sind letzten Endes durch die relative Produktivität der Arbeit bestimmt. Eine vergesellschaftete Wirtschaft, die technisch dem Kapitalismus überlegen ist, könnte in der Tat vollkommen, sozusagen automatisch ihrer sozialistischen Entwicklung sicher sein, was man von der Sowjetwirtschaft leider noch keinesfalls sagen kann.
Die meisten vulgären Apologeten der UdSSR, so wie sie ist, sind geneigt, etwa folgendermaßen zu urteilen: selbst zugegeben, dass das heutige Sowjetregime noch nicht sozialistisch ist, muss die weitere Entwicklung der Produktivkräfte auf den heutigen Grundlagen gleichwohl früher oder später zum völligen Triumph des Sozialismus führen. Strittig ist folglich nur der Zeitfaktor. Lohnt es sich, deswegen Lärm zu schlagen? Wie sieghaft diese Urteilsweise auf den ersten Blick auch scheint, in Wirklichkeit ist sie sehr oberflächlich. Zeit ist durchaus kein zweitrangiger Faktor, wo es sich um einen geschichtlichen Prozess handelt: Gegenwart und Zukunft verwechseln, ist in der Politik weitaus gefährlicher als in der Grammatik. Die Entwicklung besteht durchaus nicht, wie Vulgärevolutionisten vom Schlage der Webb es darstellen, in planmäßigem Anhäufen und ständigem „Verbessern“ des Bestehenden: sie kennt Übergänge von Quantität in Qualität, Krisen, Sprünge und Rückfälle. Gerade weil die UdSSR noch lange nicht einmal das erste Stadium des Sozialismus, d.h. ein ausgeglichenes System von Erzeugung und Verbrauch, erreicht hat, verläuft die Entwicklung nicht harmonisch, sondern in Widersprüchen. Die ökonomischen Widersprüche erzeugen soziale Gegensätze, die ihre eigene Logik entfalten, ohne die fernere Entwicklung der Produktivkräfte abzuwarten. Wir beobachteten das soeben an der Frage des Kulaken, der nicht evolutionär in den Sozialismus „hineinwachsen“ wollte und unerwartet für die Bürokratie und ihre Ideologen eine neue, ergänzende Revolution verlangte. Und die Bürokratie selber, in deren Händen Macht und Reichtum liegt, ist sie gewillt, friedlich in den Sozialismus hineinzuwachsen? Es sei gestattet, daran zu zweifeln. Jedenfalls wäre es unvorsichtig, der Bürokratie aufs Wort zu glauben. In welcher Richtung sich während der kommenden drei, fünf, zehn Jahre die Dynamik der ökonomischen Widersprüche und der sozialen Antagonismen in der Sowjetgesellschaft entwickeln wird, auf diese Frage gibt es noch keine endgültige und unwiderrufliche Antwort. Der Ausgang hängt vom Kampf der lebendigen sozialen Kräfte ab, und zwar nicht nur im nationalen, sondern auch im internationalen Maßstab. Auf jeder neuen Etappe bedarf es daher einer konkreten Analyse der realen Verhältnisse und Tendenzen in ihrem Zusammenhang und beständigem Aufeinanderwirken. Die Bedeutung einer solchen Analyse werden wir sogleich an der Frage des Sowjetstaates sehen.
Programm und Wirklichkeit
Das erste Unterscheidungsmerkmal der proletarischen Revolution erblickte Lenin mit Marx und Engels darin, dass sie, die Ausbeuter enteignend, die Notwendigkeit eines sich über die Gesellschaft hinaushebenden bürokratischen Apparats, vor allem der Polizei und des stehenden Heeres, beseitigt.
„Das Proletariat braucht den Staat – das wiederholen alle Opportunisten, Sozialchauvinisten und Kautskyaner“, schrieb Lenin 1917, ein, zwei Monate vor der Machtergreifung, „wobei sie beteuern, dass dies die Lehre von Marx sei, sie „vergessen“ aber hinzufügen, dass ... das Proletariat nach Marx nur einen absterbenden Staat braucht, d.h. einen Staat, der sofort abzusterben beginnt und nicht anders kann als absterben“ (Staat und Revolution).
Diese Kritik richtete sich seinerzeit gegen die sozialistischen Reformisten vom Schlage der russischen Menschewiki der britischen Fabier usw.; heute trifft sie mit doppelter Kraft auf die sowjetischen Götzendiener und ihren Kult des bürokratischen Staates zu, der nicht die geringste Absicht hat „abzusterben“.
Die gesellschaftliche Nachfrage nach einer Bürokratie entsteht immer dann, wenn scharfe Gegensätze vorhanden sind, die es zu „lindern“, „beizulegen“, zu „schlichten“ gilt (immer im Interesse der Privilegierten und Besitzenden und immer zum Vorteil der Bürokratie selber). Alle bürgerlichen Revolutionen, wie demokratisch sie auch waren, bewirkten eine Verstärkung und Vervollkommnung des bürokratischen Apparats.
„Beamtentum und stehendes Heer“, schreibt Lenin, „das sind die ‚Schmarotzer‘ am Leib der bürgerlichen Gesellschaft; Schmarotzer, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben Parasiten, die die Lebensporen ‚verstopfen‘.“
Seit 1917. d. h. von dem Augenblick an, als die Machteroberung sich der Partei als praktisches Problem stellte, war Lenin ununterbrochen mit Gedanken über die Liquidierung der „Parasiten“ beschäftigt. Nach dem Sturz der Ausbeuterklassen – so wiederholt und erläutert er in jedem Kapitel von Staat und Revolution – wird das Proletariat die alte bürokratische Maschine zerbrechen und seinen eigenen Apparat aus Arbeitern und Angestellten bilden, wobein „gegen deren Verwandlung in Bürokraten man sofort die von Marx und Engels eingehend untersuchten Maßnahmen treffen wird: 1. nicht nur Wählbarkeit, sondern auch jederzeitige Absetzbarkeit; 2. eine den Arbeiterlohn nicht übersteigende Bezahlung; 3. sofortiger Übergang dazu, dass alle die Funktionen der Kontrolle und Aufsicht verrichten, dass alle eine Zeitlang „Bürokraten“ werden, so dass daher niemandbeginnen kann und muss.“
Dieselbe kühne Anschauung vom Staat der proletarischen Diktatur fand anderthalb Jahre nach der Machteroberung endgültige Gestalt im Programm der bolschewistischen Partei, unter anderem in dem Kapitel über das Heer. Ein starker Staat, aber ohne Mandarine; bewaffnete Gewalt, aber ohne Samurais! Nicht aus den Aufgaben der Verteidigung entstehe die Militär- und Staatsbürokratie, sondern aus dem Klassengefüge der Gesellschaft das sich auch auf den Verteidigungskörper überträgt. Das Heer sei nur ein Abbild der sozialen Verhältnisse. Der Kampf gegen die äußeren Gefahren setze selbstverständlich auch im Arbeiterstaat eine spezialisierte militärisch-technische Organisation voraus, aber keinesfalls eine privilegierte Offizierskaste. Das Programm fordert die Ersetzung des stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk.
Das Regime der proletarischen Diktatur höre auf diese Weise schon bei seiner Geburt auf, ein „Staat“ im alten Sinne des Wortes zu sein, d.h. ein besonderer Apparat zwecks Anhaltung der Volksmehrheit zu Gehorsam. Die materielle Macht geht mit den Waffen direkt und unmittelbar in die Hände von Organisationen der Werktätigen, wie der Sowjets über. Der Staat als bürokratischer Apparat beginnt vorn ersten Tage der proletarischen Diktatur an abzusterben. So das Programm, das bis auf den heutigen Tag nicht aufgehoben wurde. Seltsam: es klingt wie eine Stimme aus dem Jenseits, wie eine Stimme aus dem Mausoleum.
Wie immer man im Grunde auch die Natur des heutigen Sowjetstaats erklärt, eins ist unbestreitbar: am Ende des zweiten Jahrzehnts seines Bestehens ist er weder abgestorben, noch auch nur im „Absterben“ begriffen, schlimmer: er wucherte zu einem in der Geschichte noch nicht da gewesenen Zwangsapparat aus: die Bürokratie ist nicht nur nicht verschwunden, den Massen ihren Platz abtretend, sondern zu einer unkontrollierten, die Massen beherrschenden Kraft geworden; die Armee ist nicht nur nicht durch das bewaffnete Volk ersetzt, sondern es bildete sich eine privilegierte Offizierskaste heraus mit Marschällen an der Spitze, während dem Volk, dem „bewaffneten Träger der Diktatur“, heute in der UdSSR sogar das Tragen von Hieb- und Stichwaffen verboten ist, Bei größter Anstrengung der Fantasie ist schwerlich ein auffallenderer Kontrast auszudenken als der, der zwischen dem Marx-Engels-Leninschen Schema eines Arbeiterstaat und dem realen Staat besteht, an dessen Spitze heute Stalin steht. Ohne den Druck Lenins gesammelter Werke einzustellen (die allerdings zensuriert und entstellt werden) fragen die heutigen Führer der Sowjetunion und ihre ideologischen Vertreter sich nicht einmal, weiches der Grund für ein so himmelschreiendes Auseinanderklaffen zwischen Programm und Wirklichkeit ist. Versuchen wir, es an ihrer statt zu tun.
Der doppelte Charakter des Arbeiterstaates.
Die proletarische Diktatur bildet die Brücke zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Gesellschaft. Ihrem Wesen nach ist sie somit zeitlich begrenzt. Eine Neben-, aber auch sehr wesentliche Aufgabe des Staates, der die Diktatur ausübt, besteht darin, seine eigene Aufhebung vorzubereiten. Der Grad der Verwirklichung dieser „Neben“aufgabe ist gewissermaßen ein Prüfstein für die erfolgreiche Durchführung der Hauptmission: den Aufbau der klassenlosen und von materiellen Widersprüchen freien Gesellschaft. Bürokratismus und soziale Harmonie sind einander umgekehrt proportional.
In seiner berühmten Polemik gegen Dühring schrieb Engels:
„... Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründeten Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren [=unterdrücken], das eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte“
Der Spießer hält den Gendarmen für eine ewige Einrichtung. In Wirklichkeit wird der Gendarm den Menschen nur solange im Zaume halten, wie der Mensch nicht wahrhaft die Natur im Zaume hält. Damit der Staat verschwinde, ist es nötig, dass die „Klassenherrschaft und der Kampf ums Einzeldasein“ verschwinde. Engels fasst diese beiden Voraussetzungen in eine zusammen: in der Perspektive des Wechsels der Gesellschaftsordnungen kommt es auf ein paar Jahrzehnte nicht an. Anders sieht es für die Generationen aus, die den Umsturz am eigenen Leibe verspüren. Es ist wahr, der Kampf aller gegen alle entsteht nur aus der kapitalistischen Anarchie. Aber die Sache ist eben die, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel noch nicht automatisch den „Kampf ums Einzeldasein“ beseitigt. Das ist des Pudels Kern!
Sogar in Amerika, auf dem Fundament des am meisten fortgeschrittenen Kapitalismus, würde der sozialistische Staat nicht mit einem Schlage jedem soviel gewähren können, wie er braucht, und sich daher gezwungen sehen, einen jeden zu größtmöglicher Produktion zu veranlassen. Das Amt des Antreibers ist unter diesen Umständen natürlich Sache des Staats, der seinerseits nicht umhin kann, mit diesen oder jenen Änderungen und Milderungen zu den vom Kapitalismus ausgebildeten Methoden des Arbeitsentgelts zu greifen. In eben diesem Sinne schrieb Marx 1875:
„... Aber diese Missstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft ...“
Zur Erläuterung dieser bemerkenswerten Zeilen setzt Lenin hinzu:
„Das bürgerliche Recht setzt natürlich in bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn das Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande ist, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. So ergibt sich, dass im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern [unleserlich].
Diese hochbedeutsame Schlussfolgerung. die von den heutigen offiziellen Theoretikern völlig ignoriert wird, ist von ausschlaggebender Bedeutung für das Verständnis der Natur des Sowjetstaates, genauer: für ein erstes Annähern an dieses Verständnis. Sofern der Staat, der sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zur Aufgabe macht, gezwungen ist, mit Zwangsmethoden Ungleichheit, d.h. materielle Vorteile einer Minderheit zu beschützen, sofern bleibt er immer noch in gewissem Grade ein „bürgerlicher“ Staat, wenn auch ohne Bourgeoisie. Diese Worte enthalten weder Lob noch Tadel, sie nennen das Ding einfach beim Namen.
Die bürgerlichen Verteilungsnormen sollen, indem sie das Wachstum der materiellen Machtfülle beschleunigen, sozialistischen Zielen dienen. Doch nur in letzter Hinsicht. Unmittelbar nämlich bekommt der Staat von Anfang an einen doppelten Charakter: einen sozialistischen, soweit er das vergesellschaftete Eigentum an den Produktionsmitteln schützt, einen bürgerlichen, soweit die Verteilung der Lebensgüter mit Hilfe des kapitalistischen Wertmessers erfolgt, mit allen daraus sich ergebenden Folgen. Diese widersprüchliche Charakteristik mag Dogmatiker und Scholastiker in Schrecken versetzen: uns bleibt da nur übrig, ihnen unser Beileid auszusprechen.
Das endgültige Gesicht des Arbeiterstaates wird durch das sich wandelnde Verhältnis zwischen seinen bürgerlichen und sozialistischen Tendenzen bestimmt werden. Der Sieg der letzteren muss eben damit die endgültige Liquidierung des Gendarmen bedeuten, d.h. das Aufgehen des Staates in eine sich selbst verwaltende Gesellschaft. Daraus allein schon erhellt zur Genüge, welch unermessliche Bedeutung sowohl an sich wie als Symptom dem Problem der Sowjetbürokratie beizumessen ist.
Gerade dadurch dass Lenin, seinem ganzen intellektuellen Wesen gemäß, der Marxschen Konzeption eine überaus scharfe Prägung gibt, deckt er die Quelle kommender Schwierigkeiten auf, darunter auch seiner eigenen, wenn er auch nicht die Zeit fand, seine Analyse zu Ende zu führen. „Der bürgerliche Staat ohne Bourgeoisie“ erwies sich als unvereinbar mit echter Sowjetdemokratie. Die Doppelheit der Funktionen des Staates musste sich notwendig auch in seiner Struktur verraten. Die Erfahrung lehrte, was die Theorie nicht mit genügender Klarheit vorherzusehen verstanden hatte: entspricht der „Staat der bewaffneten Arbeiter“ vollauf seinem Zweck was die Verteidigung des vergesellschafteten Eigentums gegen die bürgerliche Konterrevolution betrifft, so steht die Sache mit der Regulierung der Ungleichheit in der Sphäre des Verbrauchs ganz anders, Vorrechte zu schaffen und sie zu verteidigen, sind nicht die willens, denen sie abgehen. Die Mehrheit kann nicht für die Privilegien der Minderheit sorgen. Zur Verteidigung des „bürgerlichen Rechts“ ist der Arbeiterstaat gezwungen, ein seinem Typus nach „bürgerliches“ Organ ins Leben zu rufen, d.h. wieder denselben Gendarm, wenn auch in neuer Uniform.
Wir haben auf diese Weise den ersten Schritt getan zum Verständnis des Grundwiderspruches zwischen dem bolschewistischen Programm und der Sowjetwirklichkeit. Wenn der Staat nicht abstirbt, sondern immer despotischer wird, wenn die Bevollmächtigten der Arbeiterklasse sich bürokratisieren, und die Bürokratie sich über die erneuerte Gesellschaft aufschwingt, so geschieht das nicht aus irgendwelchen zweitrangigen Ursachen heraus, wie psychologischen Überbleibseln der Vergangenheit usw., sondern kraft der eisernen Notwendigkeit, eine privilegierte Minderheit auszusondern und auszuhalten, solange wahre Gleichheit noch nicht möglich ist.
Die Tendenzen zur Bürokratisierung, welche die Arbeiterbewegung der kapitalistischen Länder ersticken, werden sich auch nach der proletarischen Umwälzung bemerkbar machen müssen. Doch es ist ganz klar, je ärmer die aus der Revolution geborene Gesellschaft, um so strenger und unumwundener muss dies Gesetz in Erscheinung treten, um so gröbere Formen wird der Bürokratismus annehmen und um so mehr kann er die sozialistische Entwicklung gefährden, Was den Sowjetstaat daran hindert abzusterben oder auch nur sich vom bürokratischen Parasiten zu befreien, sind nicht, wie es in Stalins reiner Polizistendoktrin heißt, die an sich ohnmächtigen „Überreste“ der früheren herrschenden Klassen, sondern weitaus mächtigere Faktoren, wie materielle Armut, kulturelle Rückständigkeit und eine daraus sich ableitende Herrschaft „bürgerlichen Rechts“ auf einem Gebiet, das jeden Menschen am unmittelbarsten und lebhaftesten berührt; auf dem Gebiet der Selbsterhaltung.
Die „verallgemeinerte Not“ und der Gendarm
Zwei Jahre vor dem Manifest der Kommunistischen Partei schrieb der junge Marx:
Die „Entwicklung der Produktivkräfte ... [ist] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung [des Kommunismus], weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also auch mit der Notdurft der alte Streit um das Notwendige wieder und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste ...“
Diesen Gedanken hat Marx nirgends direkt ausgeführt, und nicht zufällig : hatte er ja eine proletarische Revolution in einem zurückgebliebenen Land nicht vorausgesehen. Auch Lenin verweilte nicht dabei, und ebenfalls nicht zufällig: hatte er ja eine so lange Isoliertheit des Sowjetstaates nicht vorausgesehen. Indessen liefert uns das angeführte Zitat, das bei Marx selbst nur eine abstrakte Konstruktion, ein umgekehrtes Argument ist, einen unersetzlichen theoretischen Schlüssel zu den ganz konkreten Schwierigkeiten und Gebrechen des Sowjetregimes. Auf dem historischen Hintergrund tiefsten Elends, verschärft durch die Verwüstungen des imperialistischen und des Bürgerkrieges, konnte der „Kampf ums Einzeldasein“ weder am Tage nach dem Sturz der Bourgeoisie verschwinden, noch sich in den nächstfolgenden Jahren auch nur mildern, im Gegenteil, er erreichte zeitweilig eine unerhörte Wut: muss man daran erinnern, dass gewisse Gebietsteile zweimal bis zur Menschenfresserei herabsanken?
Die Distanz, die das zaristische Russland vom Westen trennte, ist erst jetzt wirklich zu ermessen. Bei allergünstigsten Bedingungen, d.h. bei Ausbleiben innerer Erschütterungen und äußerer Katastrophen, bedürfte es noch mehrerer Fünfjahrespläne, bis die UdSSR soweit wäre, ganz und gar die Wirtschafts- und Erziehungsleistungen zu assimilieren, für die die Erstlinge der kapitalistischen Zivilisation ein ganzes Zeitalter benötigten. Anwendung sozialistischer Methoden zur Lösung vorsozialistischer Aufgaben, das ist das eigentliche Wesen des heutigen Wirtschafts- und Kulturwerks in der UdSSR.
Zwar überragt die Sowjetunion heute mit ihren Produktivkräften die höchstentwickelten Länder zu Marxens Zeit. Aber erstens kommt es bei dem historischen Vergleich zweier Regime nicht so sehr auf die absoluten als auf die relativen Niveaus an: die Sowjetwirtschaft steht dem Kapitalismus der Hitler, Baldwin und Roosevelt gegenüber, nicht dem der Bismarck, Palmerston oder Abraham Lincoln; zweitens verändert sich auch der Umfang der menschlichen Bedürfnisse gründlich mit der Weiterentwicklung der Welttechnik: die Zeitgenossen von Marx kannten weder Automobil noch Kino noch Flugzeug. Indes, heute wäre die sozialistische Gesellschaft undenkbar ohne freien Genuss all dieser Dinge.
„Die erste Phase der Kommunistischen Gesellschaft“ – um Marxens Ausdruck zu gebrauchen – beginnt mit dem Niveau, bei dem der höchstentwickelte Kapitalismus angelangt ist. Das reale Programm der nächsten Fünfjahrespläne indes besteht darin, „Europa und Amerika einzuholen“. Zur Schaffung eines Netzes von Asphalt- und Automobilstraßen in den endlosen Ausdehnungen der UdSSR bedarf es weit mehr Zeit und Mittel als zur Einfuhr fertiger Autofabriken von Amerika, und selbst mehr als zur Aneignung ihrer Technik. Wie viel Jahre wird es noch erfordern, bis es jedem Bürger möglich sein wird, sich in beliebiger Richtung per Auto zu bewegen und sich dabei unterwegs mühelos mit Kraftstoff zu versorgen? In der barbarischen Gesellschaft bildeten Berittene und Fußgänger zwei Klassen, Das Automobil differenziert die Gesellschaft nicht weniger als das Reitpferd. Solange ein bescheidener „Ford“ das Privilegium einer Minderheit bleibt, bleiben auch alle der bürgerlichen Gesellschaft eigenen Verhältnisse und Gewohnheiten bestehen. Und mit ihnen der Wächter über die Ungleichheit, der Staat.
Gänzlich von der Marxschen Theorie der Diktatur des Proletariats ausgehend, kam Lenin, wie bereits gesagt, weder in seiner Hauptarbeit über diese Frage (Staat und Revolution) noch im Parteiprogramm dazu, aus der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit und Isoliertheit des Landes alle notwendigen Schlussfolgerungen hinsichtlich des Charakters des Staates zu ziehen. Das Parteiprogramm erklärt die Rückfälle in den Bürokratismus mit der Ungewohntheit der Massen in Verwaltungsfragen sowie durch die besonderen vom Krieg erzeugten Schwierigkeiten, und empfiehlt rein politische Maßnahmen zur Überwindung der „bürokratischen Perversion“ (Wählbarkeit und Absetzbarkeit aller Beauftragten zu beliebiger Zeit, Aufhebung der materiellen Privilegien, aktive Massenkontrolle usw.). Man nahm an, auf diesem Wege würde der Beamte aus einem Vorgesetzten zu einem einfachen und überdies nur zeitweiligen technischen Agenten werden und der Staat allmählich und unmerkbar von der Szene abtreten.
Die ganz offenkundige Unterschätzung der bevorstehenden Schwierigkeiten erklärt sich dadurch, dass das Programm vollständig und vorbehaltlos auf einer internationalen Perspektive aufgebaut war. „Die Oktoberrevolution ... hat in Russland die Diktatur des Proletariats verwirklicht ... Das Zeitalter der proletarischen, kommunistischen Weltrevolution hat begonnen“. Das sind die Eingangszeilen des Programms. Seine Verfasser setzten sich nicht nur nicht die Errichtung des „Sozialismus in einem Lande“ zum Ziel – diese Idee kam damals überhaupt niemandem in den Sinn, am allerwenigsten Stalin –, sondern zerbrachen sich nicht einmal den Kopf über die Frage, welches der Charakter des Sowjetstaates sein würde, falls er zwei Jahrzehnte lang isoliert die ökonomischen und kulturellen Aufgaben zu lösen hätte, die der fortgeschrittene Kapitalismus bereits längst gelöst hat.
Die revolutionäre Nachkriegskrise führte jedoch nicht zum Sieg des Sozialismus in Europa: die Sozialdemokratie rettete die Bourgeoisie. Die Periode, die Lenin und seinen Kampfgenossen als kurze „Atempause“ erschien, dehnte sich zu einer ganzen historischen Epoche aus. Die widersprüchliche soziale Struktur der UdSSR und der ultrabürokratische Charakter ihres Staates sind direkte Folgen dieser eigenartigen. „unvorhergesehenen“ historischen Stockung, die in den kapitalistischen Ländern gleichzeitig zum Faschismus oder zur vorfaschistischen Reaktion führte.
Scheiterte der anfängliche Versuch, einen vom Bürokratismus gereinigten Staat zu schaffen, vor allem an der Ungewohntheit der Massen zur Selbstverwaltung, am Mangel an dem Sozialismus ergebenen qualifizierten Parteiarbeitern, so tauchten schon sehr bald hinter diesen unmittelbaren Schwierigkeiten andere, tiefere auf. Die Reduzierung des Staates auf die Funktionen eines „Revisors und Kontrolleurs“, bei ständiger Verminderung der Zwangsfunktion, wie sie das Programm fordert, setzt das Vorhandensein wenigstens einem verhältnismäßigen allgemeinen Wohlstand voraus. Gerade diese notwendige Voraussetzung fehlte. Die Hilfe aus dem Westen kam nicht. Die Macht der demokratischen Sowjets erwies sich als lästig, ja unerträglich, als es galt, die für Verteidigung, Industrie, Technik und Wissenschaft nötigsten privilegierten Gruppen zu versorgen. Auf Grund dieser durchaus nicht „sozialistischen“ Operation: zehnen wegnehmen, um einem zu geben, kam es zur Absonderung und Vermehrung einer mächtigen Kaste von Spezialisten der Futterkrippe.
Wie und warum jedoch führten die ungeheuren Wirtschaftserfolge der letzten Zeit nicht zur Linderung, sondern vielmehr Verschärfung der Ungleichheit und damit zu weiterem Anwachsen des Bürokratismus, der heute aus einer „Perversion“ zum Verwaltungssystem geworden ist? Bevor wir auf diese Frage zu antworten versuchen, müssen wir hören, was die autoritativer Führer der Sowjetbürokratie von ihrem eigenen Regime halten.
„Vollständiger Sieg des Sozialismus“ und „Festigung der Diktatur“ |
Der „vollständige Sieg“ des Sozialismus in der UdSSR ist in den letzten Jahren mehrfach angekündigt worden, in besonders kategorischer Form im Zusammenhang mit der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“. Am 30. Januar 1931 schrieb die Prawda im Kommentar zu einer Rede Stalins: „Im zweiten Fünfjahresplan werden die letzten Überreste der kapitalistischen Elemente in unserer Wirtschaft liquidiert werden“ (hervorgehoben von uns, LT). In dieser Perspektive gesehen, müsste in derselben Zeit auch der Staat endgültig absterben, denn wo die „letzten Überreste“ des Kapitalismus liquidiert sind, dort hat ein Staat nichts mehr zu suchen.
„Die Sowjetmacht“, so heißt es darüber im Programm der bolschewistischen Partei, „erkennt offen die Unvermeidlichkeit des Klassencharakters jeden Staates an, solange nicht die Teilung der Gesellschaft in Klassen und mit ihr jegliche staatliche Macht gänzlich verschwunden sind“.
Als indes einige unvorsichtige Moskauer Theoretiker aus der auf Treu und Glauben hingenommenen Liquidierung der „letzten Überreste“ des Kapitalismus auf das Absterben des Staates zu schließen versuchten, da erklärte die Bürokratie diese Theorien sofort für „konterrevolutionär“.
Wo liegt nun der theoretische Fehler der Bürokratie: in der Voraussetzung oder in der Schlussfolgerung? In beiden, Anlässlich der ersten Erklärungen vom „vollständigen Siege“ sprach die Opposition: man darf sich nicht auf die gesellschaftlich-juristischen, dabei unreifen, widersprüchlichen, in der Landwirtschaft noch überaus unbeständigen Verhältnisse beschränken und dabei vom Hauptkriterium absehen: dem Stand der Produktivkräfte. Die Rechtsformen selbst bekommen einen wesentlich verschiedenen sozialen Inhalt je nach dem Stand der Technik: „Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft“ (Marx). Die Sowjetformen des Eigentums auf der Grundlage der modernsten und auf alle Wirtschaftszweige übertragenen Errungenschaften der amerikanischen Technik, das wäre das erste Stadium des Sozialismus. Die Sowjetformen bei niedriger Arbeitsproduktivität, das stellt lediglich ein Übergangsregime dar, dessen Schicksal die Geschichte noch nicht endgültig entschieden hat.
„Ist das nicht ungeheuerlich“, schrieben wir im März 1932, „ein Land kommt nicht heraus aus dem Warenhunger, auf Schritt und Tritt wird die Versorgung unterbrochen, die Kinder bekommen nicht genügend Milch, – und die offiziellen Philister verkünden: ‚das Land ist in die Periode des Sozialismus eingetreten‘. Kann man den Sozialismus schlimmer kompromittieren?“ Karl Radek, heute angesehener Publizist der regierenden Sowjetkreise, parierte diese Einwände in einer der UdSSR gewidmeten Sonderausgabe des liberalen Berliner Tageblatt (Mai 1932) mit folgenden verewigungswürdigen Worten: „Die Milch ist ein Produkt der Kuh und nicht des Sozialismus, und man muss schon den Sozialismus mit dem Muster eines Landes verwechseln, wo die Milch in Strömen fliegst, um nicht zu verstehen, dass ein Land zeitweilig eine höhere Entwicklungsstufe erklimmen kann, auch ohne dass sich dabei die materielle Lage der Volksmassen nennenswert hebt“. Diese Zeilen wurden geschrieben, als im Lande furchtbare Hungersnot herrschte.
Sozialismus ist planmäßige Produktionsordnung zwecks bestmöglicher Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, sonst verdient er diesen Namen nicht. Wenn die Kühe vergesellschaftet sind, ihrer aber zu wenig oder ihre Euter zu schlaff sind, dann entstehen wegen der fehlenden Milch Konflikte: zwischen Stadt und Land, zwischen Kolchosen und Einzelbauern, zwischen den verschiedenen Schichten des Proletariats, zwischen allen Werktätigen und der Bürokratie. Ja, gerade die Vergesellschaftung der Kühe führte die Bauern dazu, sie massenweise abzuschlachten. Die aus der Not entstandenen sozialen Konflikte können ihrerseits zur Wiederauferstehung „der ganzen alten Scheiße“ führen. Das war der Sinn unserer Antwort.
Der 7. Kominternkongress versicherte in der Resolution vom 20. August 1935 feierlich, infolge der Fortschritte der nationalisierten Industrie, der Verwirklichung der Kollektivierung, der Verdrängung der kapitalistischen Elemente und der Liquidierung des Kulakentums als Klasse seien „der endgültige und unwiderrufliche Sieg des Sozialismus in der UdSSR und eine allseitige Festigung des Staates der Diktatur des Proletariats erreicht“ worden. Bei all seiner Entschiedenheit ist das Urteil der Komintern durch und durch widersprüchlich: wenn der Sozialismus „endgültig und unwiderruflich“ gesiegt hat, nicht als Prinzip, sondern als lebendige Gesellschaftsordnung. so ist die neue „Festigung“ der Diktatur offensichtlich eine Sinnlosigkeit. Und umgekehrt: wenn die Festigung der Diktatur realen Erfordernissen des Regimes entspricht, so heißt das, dass es mit dem Sieg des Sozialismus noch seine Weile hat. Nicht nur der Marxist, jeder realistisch denkende Politiker muss begreifen, dass die bloße Notwendigkeit einer „Festigung“ der Diktatur, d.h. des staatlichen Zwangs, kein Zeugnis für den Triumph der klassenlosen Harmonie ist, sondern für das Heranwachsen neuer sozialer Gegensätze. Was liegt ihnen zu Grunde? Der Mangel an Existenzmitteln, Resultat der niedrigen Arbeitsproduktivität.
Lenin charakterisierte den Sozialismus einmal mit den Worten: „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“. Diese Epigramm-artige Definition, deren Einseitigkeit den propagandistischen Zwecken des Augenblicks entsprang, setzte jedenfalls als Ausgangsminimum wenigstens das kapitalistische Elektrifizierungsniveau voraus.
Indes entfällt auch heute noch auf eine Person in der UdSSR dreimal weniger elektrische Energie als in den fortgeschrittenen Ländern. Berücksichtigt man, dass die Sowjets inzwischen einem von den Massen unabhängigen Apparat Platz machten, so bliebe der Komintern nichts anderes übrig als zu verkünden: Sozialismus ist bürokratische Macht plus ein Drittel der kapitalistischen Elektrifizierung. Diese Definition dessen, was ist, wird fotografisch genau sein, aber für Sozialismus ist es immerhin etwas zu wenig!
In seiner Ansprache an die Stachanowisten vom November 1935 erklärte Stalin, dem empirischen Zweck der Versammlung gehorchend, unerwarteter Weise: „Warum kann, muss und wird zwangsläufig der Sozialismus das kapitalistische Wirtschaftssystem besiegen? Weil er ... eine höhere Arbeitsproduktivität liefern kann“. Die drei Monate zuvor angenommenen Thesen der Komintern zu dieser Frage, sowie seine eigenen mehrfachen Erklärungen beiläufig über den Haufen werfend, spricht Stalin vom „Sieg“ diesmal im Futur: der Sozialismus wird das kapitalistische System besiegen, wenn er dessen Arbeitsproduktivität übertrifft. Nicht nur das Tempus, auch die sozialen Kriterien wechseln, wie man sieht, von Fall zu Fall. Der Sowjetbürger hat es jedenfalls nicht leicht, sich in der „Generallinie“ auszukennen.
Schließlich gab Stalin am 1. März 1936 im Gespräch mit Roy Howard eine neue Definition des Sowjetregimes zum Besten: „Jene Gesellschaftsorganisation, die wir schufen, die sowjetische, sozialistische Organisation, kann noch nicht als restlos zu Ende gebaut, aber in ihrer Wurzel als sozialistische Organisation bezeichnet werden“. In dieser absichtlich verschwommenen Definition sind fast ebensoviel Widersprüche wie Worte. Die gesellschaftliche Organisation wird eine „sowjetische, eine sozialistische“ Organisation genannt. Aber Sowjets sind eine Staatsform, und der Sozialismus ein gesellschaftliches Regime. Diese Begriffe sind nicht nur nicht identisch, sondern von unserem Gesichtspunkt aus betrachtet gegensätzlich: insoweit die gesellschaftliche Organisation sozialistisch wird, insoweit müssen die Sowjets verschwinden wie das Gerüst nach vollendetem Bau des Hauses. Stalin korrigiert: der Sozialismus ist „noch nicht vollständig aufgebaut“. Was heißt „nicht vollständig“: zu 5% oder zu 75%? Das wird uns nicht gesagt, ebenso wenig wie, was unter der „Wurzel“ der sozialistischen Organisation der Gesellschaft zu verstehen ist: die Eigentumsformen oder die Technik? Schon die Nebelhaftigkeit der Begriffe bezeichnet jedenfalls schon einen Rückzug im Vergleich mit den weitaus kategorischeren Formulierungen von 1931 und 1932. Ein weiterer Schritt auf diesem Wege wäre die Erkenntnis, dass die „Wurzel“ jeder gesellschaftlichen Organisation die Produktivkräfte sind, und dass die Sowjetwurzel eben noch nicht kräftig genug ist für den sozialistischen Stamm und seine Krone: das menschliche Wohlergehen.
Kapitel IV:
Kampf um die Arbeitsproduktivität