VI. Wachsen der Ungleichheit und der sozialen Gegensätze


Not, Luxus, Spekulation

Nach einer anfänglichen „sozialistischen Verteilung“ sah sich die Sowjetmacht 1921 gezwungen, zum Markt zurückzukehren. Die äußerste Anspannung aller Mittel in der Epoche des ersten Fünfjahresplans führte wiederum zur staatlichen Verteilung. d.h. zur Wiederholung der Erfahrung des „Kriegskommunismus“ auf einer höheren Grundlage. Jedoch auch diese Grundlage stellte sich als noch zu ungenügend heraus. Im Laufe des Jahres 1935 macht das System der planmäßigen Verteilung wieder dem Handel Platz. Zwiefach erwies es sich, dass die lebenswichtigen Methoden der Produktenverteilung mehr vom Stand der Technik und vom Vorhandensein materieller Ressourcen abhängen als sogar von den Eigentumsformen.

Die Steigerung der Arbeitsproduktivität. insbesondere durch den Akkordlohn, verspricht in der Perspektive eine Vergrößerung der Warenmassen und eine Senkung der Preise, folglich eine Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung. Aber das ist nur die eine Seite der Sache, die bekanntlich auch unter dem Kapitalismus in seiner Aufstiegsepoche zu beobachten war. Es heißt jedoch. die gesellschaftlichen Erscheinungen und Prozesse in ihrem Zusammenhang und ihrer Wechselwirkung erfassen. Steigerung der Arbeitsproduktivität auf der Grundlage des Warenverkehrs bedeutet gleichzeitig wachsende Ungleichheit. Die Hebung des Wohlstands der kommandierenden Schichten beginnt die Hebung des Lebensstandards der Massen weit in den Schatten zu stellen. Mit der Erhöhung des staatlichen Reichtums geht ein Prozess neuer sozialer Schichtenbildung einher.

Den alltäglichen Lebensbedingungen nach zerfällt die Sowjetgesellschaft schon jetzt in eine sichergestellte und privilegierte Minderheit und eine kümmerlich ihr Leben fristende Mehrheit, wobei die Ungleichheit an den extremen Polen himmelschreiende Kontraste zeitigt. Die für den breiten Verbrauch bestimmten Produkte sind trotz hoher Preise in der Regel von ungemein niedriger Qualität und, je weiter von den Zentren entfernt, um so schwerer zu bekommen, Unter solchen Umständen werden Spekulation und sogar direkter Diebstahl von Gebrauchsartikeln zu Massenerscheinungen, und wenn sie bis gestern die planmäßige Verteilung ergänzten, so dienen sie heute als Korrektiv für den Sowjethandel.

Die „Freunde“ der UdSSR haben die berufsmäßige Angewohnheit, ihre Eindrücke mit verbundenen Augen und mit Watte in den Ohren zu sammeln: auf sie kann man sich nicht verlassen. Die Feinde verbreiten oft böswillige Verleumdung. Halten wir uns an die Bürokratie selber. Da sie ja jedenfalls nicht ihr eigener Feind ist, verdienen ihre offiziellen Selbstüberführungen, die immer durch irgendwelche unabweisbaren praktischen Erfordernisse hervorgerufen sind, ungleich mehr Vertrauen als die häufigeren und lärmenderen Selbstlobe.

Der Industrieplan von 1935 wurde bekanntlich übertroffen. Doch hinsichtlich der Wohnbauten wurde der Plan nur zu 55.7% erfüllt, wobei der Bau von Arbeiterwohnungen am langsamsten, schlechtesten und nachlässigsten erfolgte. Was die Kolchosbauern betrifft, so wohnen sie wie bisher in den alten Katen mit ihren Kälbern und Kakerlaken. Andererseits beschwert sich der Sowjetadel in der Presse, dass nicht in allen für ihn errichteten Neubauten „Zimmer für Hausangestellte“, d.h. Dienstmädchen vorhanden sind.

Jedes Regime schafft sich seinen monumentalen Ausdruck im Bauwesen und in der Architektur. Für die heutige Sowjetepoche sind die zahlreichen Sowjetpaläste und Sowjethäuser charakteristisch, wahre Tempel der Bürokratie, die zuweilen Dutzende von Millionen Rubel kosteten, teure Theater, Rotarmeegebäude, d.h. Militärklubs. hauptsächlich für die Offiziere, luxuriöse Untergrundbahnen für Zahlungskräftige bei außerordentlichem und unveränderlichem Zurückbleiben des Baus von Arbeiterwohnungen, und sei es auch nur vom Typus der Wohnkasernen.

Auf dem Gebiet des Eisenbahntransports von Staatsfrachtgütern sind beachtliche Fortschritte gemacht worden. Doch der einfache Sowjetmensch hat nicht viel davon. Zahllose Verfügungen der Bahnverwaltungschefs zetern immer wieder über den „antisanitären Zustand des Wagenparks und der Passagiergebäude“, die „empörenden Tatsachen der Untätigkeit hinsichtlich der Bedienung der Passagiere auf den Eisenbahnen“, die „große Zahl von Missbräuchen, Diebstählen und Betrügereien in bezug auf Fahrkarten..., Verheimlichung der freien Plätze und Spekulation mit ihnen, das Bestechungswesen..., den Diebstahl von Gepäck auf den Stationen und in den Zügen“. Solche Tatsachen „entehren den sozialistischen Transport“! in Wahrheit gelten sie auch im kapitalistischen Transport für kriminelle Vergehen. Die wiederholten Klagen des beredten Verwalters bescheinigen einwandfrei die äußerste Unzulänglichkeit der Transportmittel für die Anforderungen der Bevölkerung. den empfindlichen Mangel an Transportgütern und schließlich die zynische Geringschätzung für den einfachen Sterblichen von Seiten der Eisenbahn- wie auch aller anderen Behörden. Sich selbst versteht die Bürokratie vortrefflich zu bedienen, gleich ob zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, wovon die große Zahl sowjetischer Salonwagen, Sonderzüge und Sonderdampfer Zeugnis ablegen, die übrigens immer mehr durch erstklassige Automobile und Flugzeuge ersetzt werden.

Bei der Charakterisierung der Fortschritte in der Sowjetindustrie teilte der Leningrader Vorsitzende des Zentralkomitees Schdanow unter dem Beifall der unmittelbar interessierten Zuhörer mit, in einem Jahr „werden unsere Aktivisten zu den Sitzungen nicht in den heutigen bescheidenen Fordwagen sondern in Limousinen fahren“. Die Sowjettechnik richtet, soweit sie auf den Menschen eingestellt ist, ihre Bemühungen vor allem auf die Zufriedenstellung der gestiegenen Anforderungen.. der auserwählten Minderheit. Die Straßenbahnen sind – dort wo es welche gibt – wie immer brechend voll.

Wenn der Volkskommissar für die Nahrungsmittelindustrie Mikojan sich rühmt, dass die niedrigen Süßigkeiten in der Produktion immer mehr von den höheren verdrängt werden, und dass „unsere Frauen“ gute Parfüms fordern, so bedeutet das nur, dass die Industrie mit dem Übergang zum Geldverkehr sich dem qualifizierten Verbraucher anpasst. Das sind die Gesetze des Marktes, auf dem die hochgestellten Frauen nicht den letzten Platz behaupten. Daneben ist zu beobachten, dass 1935 in der Ukraine 68 von 95 untersuchten Genossenschaftsläden überhaupt keine Süßigkeiten führten und die Nachfrage nach Zuckergebäck nur zu 15 bis 20% befriedigt wurde, obendrein bei äußerst niedriger Qualität. „Die Fabriken arbeiten“, klagt die Iswestija, „ohne den Forderungen des Verbrauchers Rechnung zu tragen“, natürlich wenn es nicht gerade der Verbraucher ist, der sich zu verteidigen verstehe.

Das Akademiemitglied Bach findet, dass, vom Standpunkt der organischen Chemie gesehen, „unser Brot zuweilen schauderhaft zu sein pflegt“. Das denken auch die Arbeiter und Arbeiterinnen, die in die Geheimnisse der Gärprozesse nicht eingeweiht sind; zum Unterschied von dem ehrenwerten Akademiemitglied haben sie jedoch nicht die Möglichkeit ihre Ansicht in der Presse zu äußern.

In Moskau macht der Konfektionstrust Reklame für vom „Haus der Mode“ speziell ausgearbeitete Schnittmuster für Seidenkleider; in der Provinz, selbst in großen Industriestädten können die Arbeiter nach wie vor nicht ohne Schlangestehen und andere Scherereien ein Baumwollhemd erstehen: es mangelt daran! Vielen das Notwendige verschaffen ist viel schwerer als Wenigen das Überflüssige: die ganze Geschichte bürgt dafür.

Bei der Aufzählung seiner Leistungen macht uns Mikojan damit bekannt, dass „die Margarineindustrie neu ist“. Tatsächlich gab es sie unter dem alten Regime noch nicht. Daraus soll man nicht voreilig schließen, dass die Lage schlechter geworden sei als unter dem Zaren: Butter bekam das Volk auch damals nicht zu Gesicht. Aber das Auftauchen des Ersatzes weist jedenfalls darauf hin, dass es in der Sowjetunion zwei Verbraucherklassen gibt: die eine zieht Butter vor, die andere begnügt sich mit Margarine. „Die Versorgung mit Machorkatabak ist ausreichend für alle, die ihn haben wollen“, rühmt sich derselbe Mikojan. Er vergaß hinzuzufügen, dass man weder in Europa noch in Amerika einen so minderwertigen Tabak kennt wie den Machorka.

Eine der krassesten, um nicht zu sagen herausforderndsten Erscheinungen der Ungleichheit ist die Eröffnung von besonderen Läden für Waren erster Güte in Moskau und anderen Großstädten, unter dem überaus sprechenden, wenn auch fremden Namen „Lux“. Gleichzeitig zeigen die nicht enden wollenden Klagen über massenhaften Diebstahl in den Delikatessenläden Moskaus und der Provinz, dass nur die Minderheit an Nahrungsmitteln keinen Mangel leidet, aber alle davon essen möchten.

Die arbeitende Mutter hat ihre eigene Ansicht über das soziale Regime, und ihr „Verbraucher“kriterium, wie sich der hohe Beamte verächtlich ausdrückt – der übrigens seinem eigenen Verbrauch viel Aufmerksamkeit schenkt – ist letzten Endes entscheidend. Im Konflikt zwischen der Arbeiterin und der Bürokratie stehen wir mit Marx und Lenin auf der Seite der Arbeiterin gegen den Bürokraten, der die Leistungen übertreibt, die Widersprüche verschleiert und die Arbeiterin an der Gurgel hält, damit sie es ja nicht wage zu kritisieren.

Margarine und Machorka mögen heute eine traurige Notwendigkeit sein, Aber dann ist es nicht angebracht zu prahlen und die Wirklichkeit zu färben. Limousinen für die „Aktivisten“, gute Parfums für „unsere Frauen“, Margarine für die Arbeiter, „Lux“-Läden für die Vornehmen, der Anblick der Delikatessen durch die Fensterscheiben für den Pöbel – so ein Sozialismus muss den Massen wie ein gewendeter Kapitalismus erscheinen. Und dies Urteil ist gar nicht so falsch. Auf dem Fundament der „verallgemeinerten Not“ droht der Kampf um die notwendigen Existenzmittel die „ganze alte Scheiße“ wiederzubeleben und tut es stückweise auf Schritt und Tritt.

Die heutigen Marktverhältnisse unterscheiden sich von den Verhältnissen der NEP (1921-1928) dadurch, dass sie sich ohne Vermittler und private Händler, unmittelbar zwischen den Staats-, Kooperativ- und Kolchosorganisationen und dem einzelnen Bürger entfalten müssen. Allein, so verhält es sich nur im Prinzip. Der schnell wachsende Umsatz des staatlichen und genossenschaftlichen Einzelhandels soll 1936 laut Entwurf 100 Milliarden Rubel betragen. Der Umsatz des Kolchosenhandels der 1935 16 Milliarden betrug, soll in diesem Jahr bedeutend anwachsen. Es ist schwer zu bestimmen, welchen Raum – jedenfalls keinen winzigen – die illegalen und halblegalen Vermittler sowohl in wie neben diesem Umsatz einnehmen. Nicht nur die Einzelbauern sondern auch die Kolchosen insbesondere die einzelnen Kolchosbauern sind überaus geneigt, sich des Vermittlers zu bedienen. Denselben Weg gehen die Handwerker, die Genossenschaftler, die lokale Industrie, die mit den Bauern zu tun hat. Von Zeit zu Zeit heißt es plötzlich, der Fleisch-, Butter- oder Eierhandel eines großen Bezirks sei „Spekulanten“ in die Hände gefallen. Sogar allernotwendigster Hausbedarf wie Salz, Streichhölzer, Mehl, Petroleum, die in den Staatslagern In ausreichender Menge vorhanden sind, fehlen wochen- und monatelang in den bürokratisierten Dorfgenossenschaften: es ist klar, dass die Bauern die Waren, die sie brauchen sich anderweitig beschaffen. Die Sowjetpresse erwähnt andauernd die Wiederverkäufer wie etwas ganz Selbstverständliches.

Was die anderen Formen des privaten Gewerbes und der privaten Akkumulation betrifft, so spielen sie offensichtlich eine geringere Rolle. Die selbständigen Kutscher, Inhaber von Gastwirtschaften, alleinstehenden Handwerker sind, ähnlich wie die Einzelbauern, halb geduldete Berufe. In Moskau selbst gibt es eine große Anzahl privater Hilfs- und Reparaturwerkstätten: man drückt darüber ein Auge zu, weil sie bedeutende Lücken in der Wirtschaft ausfüllen. Eine ungleich größere Anzahl Privater arbeitet jedoch unter dem Deckmantel aller Art Artels [=handwerkliche Arbeitsgemeinschaften] und Genossenschaften oder birgt sich unter dem Dach der Kolchosen, Wie um die Risse der Planwirtschaft zu unterstreichen, verhaftet die Kriminalpolizei von Zeit zu Zeit als böswillige Spekulantinnen hungrige Frauen, die mit handgenähten Mützen oder Blusen handeln.

„Die Basis für die Spekulation ist in unserem Lande vernichtet“, verkündete Stalin im Herbst 1935, „und wenn es bei uns trotzdem noch Spekulanten gibt, so ist das nur durch Eins zu erklären: ungenügende Klassenwachsamkeit, liberales Verhalten in einzelnen Betriebsstufen des Sowjetapparats zu den Spekulanten“. Da haben wir ein Stück des bürokratischen Denkens in idealer Reinkultur vor uns! Die ökonomische Basis der Spekulation ist vernichtet? Aber dann ist keinerlei Wachsamkeit mehr vonnöten. Wenn der Staat beispielsweise der Bevölkerung die nötige Menge Kopfbedeckungen liefern könnte, brauchte man nicht unglückliche Straßenhändlerinnen zu verhaften. Übrigens ist dies auch jetzt kaum erforderlich.

An sich sind die oben aufgezählten Kategorien der Privaten sowohl der Anzahl wie dem Umsatz nach nicht schlimm. Man kann ja in der Tat auch keine Erstürmung der Festen des staatlichen Eigentums befürchten seitens Lastfuhrmännern, Mützenhändlerinnen, Uhrmachern und Eierverkäufern! Aber mit den nackten Zahlenverhältnissen ist die Frage allerdings noch nicht entschieden. Die Unmenge und Buntscheckigkeit aller Arten von Spekulanten, die beim geringsten administrativen Versagen wie Fieberflecken durchbrechen, sind ein Zeichen für das ständige Andrängen kleinbürgerlicher Tendenzen. Der Grad der Gefahr, die die Spekulantenbazillen für die sozialistische Zukunft darstellen, wird gänzlich durch die allgemeine Widerstandskraft des wirtschaftlichen und politischen Organismus des Landes bestimmt.

Die Geistesverfassung und das Verhalten der einfachen Arbeiter und Kolchosbauern, d.h. annähernd 90% der Bevölkerung, hängen in erster Linie von den Veränderungen ihres eigenen Reallohns ab, Doch nicht geringere Bedeutung ist dem Verhältnis zwischen ihrem Einkommen und dem der besser gestellten Schichten beizumessen. Das Relativitätsgesetz macht sich wohl am unmittelbarsten auf dem Gebiet des menschlichen Verbrauchs geltend. Die Übertragung aller gesellschaftlichen Beziehungen in die Sprache der Geldrechnung enthüllt restlos den realen Anteil der verschiedenen Gesellschaftsschichten am Volkseinkommen. Selbst wenn man die historische Unvermeidlichkeit der Ungleichheit noch für lange Zeit zugesteht, bleiben die Fragen der zulässigen Grenzen dieser Ungleichheit sowie ihrer gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit in jedem konkreten Fall noch offen. Der unvermeidliche Kampf um den Anteil am Volkseinkommen wird notwendigerweise zum politischen Kampf. Ob die heutige Ordnung sozialistisch ist oder nicht, das wird nicht durch die Sophismen der Bürokratie entschieden, sondern dadurch, wie sich die Massen selbst, d.h. die Industriearbeiter und Kolchosbauern zu dieser Ordnung verhalten.

Differenzierung des Proletariats

Es sollte scheinen, in einem Arbeiterstaat müssten die den Reallohn betreffenden Daten besonders sorgfältig studiert werden und sollte sich überhaupt die gesamte Statistik der Einkünfte nach den Bevölkerungskategorien durch vollständige Durchsichtigkeit und Allgemeinverständlichkeit auszeichnen. In Wirklichkeit ist gerade dies Gebiet, das die Lebensinteressen der Werktätigen am meisten angeht, von einem undurchdringlichen Vorhang umhangen. Das Budget einer Arbeiterfamilie bildet in der Sowjetunion, so unwahrscheinlich es klingen mag, für die Forschung eine ungleich rätselhaftere Größe als in einem beliebigen kapitalistischen Land. Vergeblich würden wir versuchen, die Kurve des Reallohns der verschiedenen Kategorien der Arbeiterklasse zu ermitteln, und sei es auch nur für die Jahre des zweiten Fünfjahresplans. Das hartnäckige Schweigen der Quellen und Behörden ist in dieser Beziehung ebenso beredt wie ihr Prunken mit nichtssagenden summarischen Ziffern.

Gemäß einem Bericht des Volkskommissars für Schwerindustrie Ordschonikidse ist die Monatsleistung eines Arbeiters in dem Jahrzehnt 1925-1935 um das 3,2fache gestiegen, der Geldlohn aber um das 4,5fache. Welchen Teil von diesem letzten, so eindrucksvoll ausschauenden Koeffizienten die Spezialisten und höheren Arbeiterschichten verschlingen, und – was nicht weniger wichtig ist – wie viel dieser Nominallohn in realen Werten darstellt, darüber erfahren wir weder aus dem Bericht noch aus den Zeitungskommentaren etwas. Auf dem Kongress der Sowjetjugend im April 1936 erklärte der Konsomolsekretär Kossarew: „Vom Januar 1931 bis zum Dezember 1935 stieg der Arbeitslohn der Jugendlichen um 340%!“ Aber selbst inmitten der sorgfältig ausgelesenen jungen Ordenträger, die mit Ovationen nicht sparen, folgte auf diese Prahlerei nicht ein einziges Händeklatschen: den Zuhörern wie dein Redner war allzu bekannt, dass die scharfe Wendung zu den Marktpreisen die materielle Lage der Hauptarbeitermassen verschlechtert hatte.

Der „durchschnittliche“ Jahreslohn, Trustdirektor und Straßenkehrern zusammengenommen, betrug 1935 rund 2.300 Rubel und sollte 1936 rund 2.500 Rubel betragen, d.h. nominal 7.500 französische Francs, der realen Kaufkraft nach aber kaum mehr als 3.500 bis 4.000 Francs. Diese an sich schon sehr bescheidene Ziffer schmilzt noch weiter, wenn man berücksichtigt, dass die Erhöhung des Arbeitslohns im Jahre 1936 nur eine Teilentschädigung für die Abschaffung der Vorzugspreise auf Gebrauchsgegenstände und die Aufhebung einer Reihe unentgeltlicher Dienste darstellt. Aber was die Hauptsache ist, 2.500 Rubel im Jahr, 208 Rubel pro Monat sind wie gesagt der Durchschnittslohn, d.h. eine mathematische Fiktion, deren Zweck es ist, die Wirklichkeit zu verschleiern, nämlich eine grausame Ungleichheit in der Bezahlung der Arbeit.

Es ist ganz unbestreitbar, dass die Lage der höheren Arbeiterschicht. insbesondere die der sogenannten Stachanowleute, sich im letzten Jahr bedeutend gehoben hat: nicht von ungefähr zählt die Presse sorgfältig auf, wie viel Anzüge, Stiefel, Grammophone, Fahrräder oder Konservenbüchsen sich diese oder jene Ordenträger kauften. Dabei stellt sich beiläufig gesagt heraus, wie unerschwinglich diese Gegenstände für den einfachen Arbeiter sind. Über die Beweggründe der Stachanowbewegung erklärte Stalin: „Es lebt sich besser, es ist eine Freude geworden zu leben. Und wenn das Leben froh ist, geht die Arbeit von der Hand“. In dieser für die herrschende Schicht recht charakteristischen optimistischen Art, das Akkordwesen zu beleuchten, steckt der Teil prosaischer Wahrheit, dass die Aussonderung einer Arbeiteraristokratie erst dank der vorhergehenden Wirtschaftserfolge des Landes möglich wurde. Was die Stachanowleute treibt, ist jedoch nicht die „frohe“ Stimmung an sich, sondern das Streben nach größerem Verdienst. Molotow berichtigte Stalin folgendermaßen: „Der unmittelbare Antrieb zu hohen Arbeitsleistungen bei den Stachanowisten“, erklärte er, „ist das einfache Interesse an der Vergrößerung ihres Verdienstes“. In der Tat: im Verlaufe weniger Monate bildete sich eine ganze Schicht von Arbeitern heraus, die man „Tausender“ nennt, weil ihr Verdienst 1.000 Rubel pro Monat übersteigt; einige verdienen sogar über 2.000 Rubel, während die Arbeiter der niedrigsten Kategorien oft weniger als 100 Rubel pro Monat erhalten.

Es sollte scheinen, dass diese Spannbreite des Arbeitslohns einen genügend großen Unterschied zwischen den „edlen“ und „nichtedlen“ Arbeitern schafft. Doch der Bürokratie ist das noch zu wenig! Die Stachanowleute werden buchstäblich mit Privilegien überhäuft: man bringt sie in neuen Wohnungen unter oder repariert die alten, sie kommen außer der Reihe in die Ruhehäuser und Sanatorien, man schickt ihnen unentgeltlich Lehrer und Ärzte ins Haus, schenkt ihnen Freikarten fürs Kino. stellenweise werden ihnen sogar unentgeltlich und außer der Reihe die Haare geschnitten und die Bärte rasiert. Viele von diesen Privilegien sind wie absichtlich darauf berechnet, den Durchschnittsarbeiter zu kränken und zu verletzen. Die Ursache für das aufdringliche Wohlwollen der Machthaber ist außer Strebertum schlechtes Gewissen: die lokalen herrschenden Gruppen packen gierig die Gelegenheit. aus der Isolierung herauszukommen, indem sie die oberste Arbeiterschicht an den Privilegien teil haben lassen. Das Ergebnis ist, dass der Reallohn der Stachanowisten oft zwanzig- bis dreißigmal den Verdienst der unteren Arbeiterkategorien übersteigt. Was besonders glückliche Spezialisten betrifft, so könnten mit ihrem Gehalt in vielen Fällen 80 bis 100 Handlanger entlohnt werden. Hinsichtlich des Umfangs der Ungleichheit im Arbeitsentgelt hat die UdSSR die kapitalistischen Länder nicht nur eingeholt, sondern weit überholt!

Die besten der Stachanowisten, d.h. die, die sich wirklich von sozialistischen Motiven leiten lassen, werden der Privilegien nicht froh und sind verärgert. Kein Wunder: der individuelle Genuss aller Art materieller Güter bei allgemeinem Darben umgibt sie mit einem Ring von Hass und Missgunst und vergiftet ihr Dasein. Von der sozialistischen Moral sind derartige Verhältnisse weiter entfernt als die der Arbeiter in einer kapitalistischen Fabrik, die durch den gemeinsamen Kampf gegen die Ausbeuter verbunden sind.

Bei alledem ist das alltägliche Leben auch für den qualifizierten Arbeiter nicht leicht, besonders in der Provinz. Abgesehen davon, dass der Siebenstundentag immer mehr der erhöhten Leistung zum Opfer fällt, gehen nicht wenig Stunden auf anderweitigen Kampf ums Dasein drauf. Als Zeichen besonderer Wohlfahrt der besten Sowchosarbeiter wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Traktoren-, Mähdrescherführer usw., d.h. bereits eine notorische Aristokratie, selbst Kühe und Schweine besitzen. Die Theorie, die da lautete, Sozialismus ohne Milch sei besser als Milch ohne Sozialismus, ist fallen gelassen. Jetzt wird zugegeben, das die Arbeiter der landwirtschaftlichen Staatsbetriebe, wo doch eigentlich kein Mangel an Kühen und Schweinen herrschen sollte, sich zur Sicherung ihres Daseins eine eigene Taschenviehzucht einrichten müssen. Nicht weniger erstaunlich klingt die Mitteilung, dass in Charkow 96.000 Arbeiter eigene Gemüsegärten besitzen; die anderen Städte werden aufgefordert, es Charkow nachzutun. Welch entsetzliche Vergeudung menschlicher Kraft bedeuten die „eigene Kuh“ und der „eigene Gemüsegarten“ für den Arbeiter und vor allem für seine Frau und Kinder, und welche Last dies mittelalterliche Graben in Mist und Erde!

Was die große Masse betrifft, so hat sie selbstredend weder Kühe, noch Gemüsegärten, oft nicht einmal eine eigene Zimmerecke. Der Verdienst der ungelernten Arbeiter beträgt 1.200 bis 1.500 Rubel im Jahr und sogar weniger, was bei den Sowjetpreisen ein Elendsregime bedeutet. Die Wohnverhältnisse der sicherste Nenner des materiellen und kulturellen Niveaus, sind sehr schlecht, oft unerträglich. Die überwiegende Mehrheit der Arbeiter haust in Gemeinschaftsheimen die, was Ausstattung und Geräumigkeit betrifft, ärger sind als Kasernen. Wenn es einmal nötig wird, gewisse Produktionsfehlschläge Arbeitsversäumnisse und Ausschuss zu entschuldigen, gibt die Verwaltung durch ihre Journalisten selber folgende Beschreibung der Wohnverhältnisse: „Die Arbeiter schlafen auf dem Fußboden, da sie in den Betten von den Wanzen zerfressen werden, die Stühle sind zerbrochen, kein Becher da, um Wasser zu trinken“ usw. „In einem Zimmer leben zwei Familien. Es leckt durchs Dach. Bei Regen trägt man das Wasser eimerweise aus den Zimmern“. „Der Austritt ist in ekelhaftem Zustand“. Die Zahl solcher Beschreibungen der Verhältnisse in verschiedenen Landesteilen kann man nach Belieben vermehren. Infolge der unerträglichen Bedingungen „erreicht die Fluktuation der Arbeiter“, wie zum Beispiel der Leiter der Erdölindustrie schreibt, „sehr hohen Umfang... Wegen Mangel an Arbeitern sind eine große Menge Bohrtürme außer Betrieb...“ In einigen ganz besonders ungünstigen Bezirken sind nur solche zur Arbeit zu haben, die woanders wegen verschiedener Disziplinvergehen zur Strafe entlassen worden sind. So setzt sich am Boden des Proletariats eine Schicht von verstoßenen und rechtlosen Sowjetparias an, auf die jedoch ein so wichtiger Industriezweig wie die Erdölgewinnung weitgehend angewiesen ist.

Das Ergebnis der himmelschreienden Unterschiede beim Arbeitsentgelt, die durch die willkürlichen Privilegien noch vertieft werden, ist, dass die Bürokratie scharfe Gegensätze innerhalb des Proletariats zu züchten vermag. Die Berichte von der Stachanowkampagne ergaben zuweilen das Bild eines kleinen Bürgerkriegs. „Pannen und Brüche an den Mechanismen sind ein beliebtes (!) Mittel im Kampf gegen die Stachanowbewegung“, schrieb zum Beispiel das Gewerkschaftsorgan. „Der Klassenkampf“, lesen wir weiter, „bringt sich auf Schritt und Tritt in Erinnerung“. In diesem „Klassen“kampf stehen die Arbeiter auf der einen Seite, die Gewerkschaften auf der anderen. Stalin empfahl öffentlich, den Widerstrebenden eins „in die Fresse“ zu geben, Andere Mitglieder des Zentralkomitees drohten des öfteren, die „frech werdenden Feinde“ vom Erdboden zu fegen. An der Erfahrung der Stachanowbewegung offenbart sich besonders krass sowohl die tiefe Entfremdung zwischen Staatsmacht und Proletariat, wie die zähe Wut, mit der die Bürokratie die freilich nicht von ihr erfundene Regel anwendet: „Teile und herrsche!“ Dafür wird den Arbeitern zum Trost der forcierte Akkord „sozialistischer Wettbewerb“ getauft. Die Bezeichnung klingt wie Hohn!

Der Wetteifer, dessen Wurzeln in unserer Biologie liegen, wird zweifellos – vorher von Habsucht, Neid und Vorrechten gesäubert – auch unter dem Kommunismus die Haupttriebkraft bleiben. Aber in der näherliegenden Vorbereitungsepoche kann und wird eine wirkliche Festigung der sozialistischen Gesellschaft nicht mit den erniedrigenden Methoden des zurückgebliebenen Kapitalismus geschehen, deren sich die Sowjetregierung bedient, sondern auf eine Weise, die des befreiten Menschen würdiger ist, und vor allem ohne den bürokratischen Knüttel. Denn dieser Knüttel ist selbst das abscheulichste Erbe der alten Welt. Man muss ihn entzweibrechen und auf öffentlichem Scheiterhaufen verbrennen, bevor man ohne Schamröte von Sozialismus reden kann!

Soziale Gegensätze im Kolchos

Sind die Industrietrusts „im Prinzip“ sozialistische Unternehmungen, von den Kolchosen kann man das nicht sagen. Sie fußen nicht auf staatlichem, sondern auf Gruppeneigentum. Das ist verglichen mit der spreuartigen Individualwirtschaft ein tüchtiger Schritt vorwärts. Ob aber die Kollektivwirtschaften zum Sozialismus führen werden, das hängt von einer ganzen Reihe Umstände ab, von denen ein Teil innerhalb der Kolchosen zu suchen ist, ein anderer außerhalb davon, in den allgemeinen Bedingungen des Sowjetsystems, schließlich ein weiterer Teil, und nicht der kleinste, auf dem Weltschauplatz.

Der Kampf zwischen Bauernschaft und Staat ist noch längst nicht beendet, Die gegenwärtige, noch sehr unbeständige Organisierung der Landwirtschaft ist nichts weiter als ein zeitweiliges Kompromiss der kämpfenden Lager nach einem grimmigen Ausbruch des Bürgerkriegs. Allerdings sind 90% der Bauernhöfe kollektiviert, die Kolchosländereien liefern 94% der gesamten landwirtschaftlichen Produktion. Selbst wenn man einen gewissen Prozentsatz von Scheinkolchosen berücksichtigt, hinter denen sich im Grunde Einzelbauern verstecken, so scheint doch nichts anderes übrig zu bleiben als anzuerkennen, dass der Sieg über die Individuelle Wirtschaftsweise mindestens zu neun Zehnteln errungen ist. Jedoch der wirkliche Kampf der Kräfte und Tendenzen auf dem Lande lässt sich keinesfalls in den Rahmen einer nackten Gegenüberstellung von Einzel- und Kolchosbauern zwängen.

Um mit den Bauern Frieden zu stiften, sah sich der Staat gezwungen, den Privatbesitz- und individuellen Tendenzen des flachen Landes weitgehende Zugeständnisse zu machen, angefangen mit der feierlichen Übergabe der Ländereien an die Kolchosen in „ewige“ Nutzung, womit im Grunde die Sozialisierung des Bodens liquidiert ist. Eine juristische Fiktion? Je nach dein Kräfteverhältnis kann sie sich als Realität erweisen und schon in der allernächsten Periode der Planwirtschaft im Staatsmaßstab erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Viel wichtiger jedoch ist, dass der Staat sich gezwungen sah, die Wiederherstellung individueller Bauernwirtschaften auf besonders winzigen Parzellen mit eigenen Kühen, Schweinen, Schafen, Geflügel usw. zuzulassen. Zum Entgelt für das Attentat auf die Sozialisierung und die Einschränkung der Kollektivierung findet sich der Bauer bereit, friedlich, wenn auch bislang ohne großen Eifer, in den Kolchosen zu arbeiten, die ihm die Möglichkeit geben, seine Pflichten gegenüber dem Staat zu erfüllen und etwas in eigene Nutzung zu bekommen. Die neuen Beziehungen sind in ihrer Form noch so unreif, dass man sie auch dann nur schwer in Ziffern fassen könnte, wenn die Sowjetstatistik ehrlicher wäre als sie ist. Vieles erlaubt nichtsdestoweniger darauf zu schließen, das die Zwergwirtschaften für das persönliche Dasein des Bauern bislang nicht weniger bedeuten als die Kolchosen. Das heißt eben, dass der Kampf zwischen den individualistischen und kollektivistischen Tendenzen die gesamte Masse des Dorfes aufwühlt, und dass sein Ausgang noch nicht entschieden ist. Wohin neigt der Bauer am meisten? Er weiß es selbst nicht genau.

Der Volkskommissar für Landwirtschaft sagte Ende 1935; „Bis in die letzte Zeit hinein stießen wir von Seiten der Kulakenelemente auf heftigen Widerstand gegen die Erfüllung des Staatsplans hinsichtlich der Getreideaufbringung“. Das heißt mit anderen Worten, die Kolchosbauern betrachteten in ihrer Mehrzahl „bis in die letzte Zeit hinein“ (und heute?) die Kornablieferung an den Staat als eine für sie unvorteilhafte Operation und neigten zum privaten Handel. In einer anderen Beziehung bezeugen dies auch die drakonischen Gesetze zum Schutz des Kolchoseigentums vor der Plünderung durch die Kolchosbauern selbst. Äußerst lehrreich ist auch die Tatsache, dass das Kolchoseigentum beim Staat mit 20 Milliarden Rubel versichert ist, das Privateigentum der Kolchosbauern aber mit 21 Milliarden. Wenn dies Verhältnis auch nicht notwendig bedeutet, dass die Kolchosbauern, einzeln genommen, reicher seien als die Kolchosen, so doch jedenfalls, dass die Kolchosbauern ihren eigenen Besitz sorgsamer versichern als den gemeinsamen.

Nicht weniger aufschlussreich ist von dem uns interessierenden Standpunkt aus der Entwicklungsverlauf bei der Viehzucht. Während die Menge der Pferde bis 1935 sich unausgesetzt verringerte und erst infolge einer Reihe von Regierungsmaßnahmen im letzten Jahr eine leichte Erhöhung aufzuweisen begann, betrug die Vermehrung des Hornviehs im vergangenen Jahr bereits 4 Millionen Tiere, In bezug auf die Pferde wurde der Plan im günstigen Jahr 1935 nur zu 94% erfüllt, hinsichtlich des Hornviehs aber erheblich übertroffen, Der Sinn dieser Angaben erhellt aus der Tatsache, dass Pferde nur Kolchoseigentum sind, während Kühe sich auch bereits im Besitz der meisten Kolchosbauern befinden. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, dass in den Steppenbezirken, wo es den Kolchosbauern ausnahmsweise erlaubt ist, ein eigenes Pferd zu besitzen, der Pferdebestand bei diesen Eigentümern erheblich schneller wächst als bei den Kolchosen, die ihrerseits den Sowchosen den Rang ablaufen, Aus all dem folgt keineswegs eine Überlegenheit des Kleinbetriebs über den vergesellschafteten Großbetrieb. Aber der Übergang vom ersten zum zweiten, von der Barbarei zur Zivilisation, birgt so manche Schwierigkeiten, die sich nicht durch administrativen Druck allein aufheben lassen.

„Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft ...“ Die Verpachtung des Bodens, gesetzlich verboten, ist in Wirklichkeit recht weit verbreitet, und zwar in ihrer schädlichsten Form, der des Abarbeitens. Land wird verpachtet von Kolchosen an Kolchosen, zuweilen an fremde Personen. schließlich an eigene unternehmungslustigere Mitglieder. Zur Verpachtung nehmen, so unwahrscheinlich es klingen mag, auch Sowchosen Zuflucht, d.h. „sozialistische“ Unternehmungen, und was besonders lehrreich ist, selbst die Sowchosen der GPU! Unter dem schützenden Mantel dieser hohen Institution, Hüterin des Gesetzes, erlegt der Sowchosendirektor den Pachtbauern Bedingungen auf, wie sie aus den alten gutsherrschaftlichen Leibeigenschaftsverträgen abgeschrieben sein könnten. Wir haben hier folglich mit Fällen zu tun, wo die Bürokraten bereits nicht mehr als Agenten des Staats, sondern als halblegale Großgrundbesitzer die Bauern ausbeuten.

Ohne im geringsten die Ausmaße solcher Entartungserscheinungen, die sich der statistischen Erfassung natürlich entziehen, zu übertreiben, darf man jedoch ihre gewaltige symptomatische Bedeutung nicht übersehen. Sie sind ein fehlerloses Zeugnis von der Kraft der bürgerlichen Tendenzen in dem noch ungemein rückständigen Wirtschaftszweig, der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung umfasst. Die Marktverhältnisse verstärken unterdessen unvermeidlich die individualistischen Tendenzen und vertiefen die soziale Differenzierung im Dorf, trotz der neuen Struktur der Eigentumsverhältnisse.

Im Durchschnitt entfiel 1935 auf einen Kolchoshof ein Geldeinkommen von 4.000 Rubeln. Doch in bezug auf die Bauern sind die „Durchschnitts“ziffern noch trügerischer als in bezug auf die Arbeiter. Im Kreml wurde zum Beispiel berichtet, dass die Kolchosfischer 1935 verglichen mit 1934 das Doppelte verdienten, nämlich je 1919 Rubel, wobei der Beifall anlässlich dieser letzten Ziffer zeigte, wie bedeutend sie den Verdienst der großen Kolchosmassen überragt. Andererseits gibt es Kolchosen wo auf jeden Hof rund 30.000 Rubel entfallen, ohne die Geld- und Naturaleinkünfte der Individualwirtschaften oder die Naturaleinkünfte des Betriebs in seiner Gesamtheit mitzurechnen: im allgemeinen ist das Einkommen jedes dieser Kolchosgroßbauern 10 bis 15 Mal höher als der Verdienst eines „Durchschnitts“arbeiters oder eines gewöhnlichen Kolchosbauern.

Die Stufung der Einkünfte ist nur zum Teil durch Fertigkeit und Fleiß bedingt. Die Kolchosen sowohl wie die privaten Parzellen der Bauern befinden sich je nach Klima, Bodenbeschaffenheit, Anbausorten, Lage zu den Städten und Industriezentren, in außerordentlich ungleichen Bedingungen. Der Gegensatz zwischen Stadt und Land hat sich während der Fünfjahrespläne nicht nur nicht gemildert, sondern umgekehrt infolge des fieberhaften Wachsens der Städte und neuen Industriebezirke außerordentlich verstärkt. Dieser grundlegende soziale Gegensatz der Sowjetgesellschaft erzeugt unvermeidlich Produktionswidersprüche zwischen und in den Kolchosen, hauptsächlich kraft der Differentialrente.

Die uneingeschränkte Macht der Bürokratie ist ein nicht weniger machtvolles Werkzeug der sozialen Differenzierung. In ihrer Hand liegen Hebel wie der Arbeitslohn, die Preise, die Steuern, das Budget und der Kredit. Die ganz unverhältnismäßig großen Gewinne mehrerer mittelasiatischer Baumwollkolchosen sind in viel höherem Grade durch die von der Regierung festgesetzten Preisverhältnisse bedingt als durch die eigentliche Arbeit der Kolchosbauern. Die Ausbeutung der einen Bevölkerungsschicht durch die andere ist nicht verschwunden sondern getarnt. Die ersten paar zehntausend „wohlhabenden“ Kolchosen erwarben ihren Wohlstand auf Kosten der zurückgebliebenen Kolchosen und der Industriearbeitermasse. Alle Kolchosen zum Wohlstand zu bringen, ist eine unermesslich schwierigere und langwierigere Aufgabe, als einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit Privilegien zuzuschanzen. Als 1927 die linke Opposition konstatierte, dass „das Einkommen des Kulaken ungleich stärker als das des Arbeiters gewachsen ist “, so gilt das auch heute noch, freilich in abgeänderter Form: das Einkommen der Kolchosspitzen ist viel höher gestiegen als das der großen Bauern- und Arbeitermasse. Der Unterschied im materiellen Niveau ist heute sogar wohl noch bedeutender als knapp vor der Entkulakisierung.
Die sich innerhalb der Kolchosen vollziehende Differenzierung äußert sich teils auf dem Gebiet des persönlichen Verbrauchs, teils in der privaten Hofwirtschaft, da ja die Produktionsmittel des eigentlichen Kolchos vergesellschaftet sind. Die Differenzierung zwischen den Kolchosen hat schon jetzt tiefergehende Wirkungen, da sich vor den reichen Kolchosen die Möglichkeit auftut, mehr Dünger und mehr Maschinen zu verwenden und folglich sich schneller zu bereichern. Gedeihende Kolchosen dingen häufig Arbeitskräfte bei den armen Kolchosen, und die Machthaber drücken darüber ein Auge zu. Die Verschreibung der nicht gleichwertigen Grundstücke an die Kolchosen muss die weitere Differenzierung zwischen ihnen und folglich die Aussonderung einer Art „bourgeoiser“ Kolchosen oder „Kolchosmillionäre“, wie sie schon jetzt genannt werden, außerordentlich fördern.

Natürlich hat die Staatsgewalt die Möglichkeit, als Regulator in den Prozess der sozialen Differenzierung der Bauernschaft einzugreifen. Doch in welcher Richtung und in welchen Grenzen? Auf die Kulakenkolchosen und Kolchoskulaken einschlagen hieße einen neuen Konflikt mit den „progressivsten“ Schichten der Bauernschaft heraufbeschwören, die gerade jetzt nach einer schmerzhaften Unterbrechung besonders lebhaften Geschmack am „glücklichen Leben“ fanden. Und außerdem – das ist die Hauptsache – wird die Staatsgewalt selbst immer unfähiger zu sozialistischer Kontrolle. In der Landwirtschaft sucht sie, ebenso wie in der Industrie, die Unterstützung und Freundschaft der Starken, Prosperierenden, der „Ackerstachanowisten“, der Kolchosmillionäre. Von der Sorge um die Entwicklung der Produktivkräfte ausgehend, endet sie unausweichlich bei der Sorge um sich selbst.

Gerade in der Landwirtschaft, wo der Verbrauch so unmittelbar mit der Erzeugung verknüpft ist, eröffnete die Kollektivierung grandiose Möglichkeiten für das Schmarotzertum der Bürokratie und dadurch für ihre Verflechtung mit den Kolchosspitzen. Die Ehren„geschenke“ welche die Kolchosbauern den Führern auf den feierlichen Tagungen im Kreml darbringen, sind nur ein symbolischer Ausdruck für den nicht symbolischen Tribut, den sie den lokalen Machtvertretern zollen.

So gerät in der Landwirtschaft noch unvergleichlich mehr als in der Industrie das niedrige Produktionsniveau. ständig in Konflikt mit den sozialistischen und sogar den genossenschaftlichen (kollektivwirtschaftlichen.) Eigentumsformen Die Bürokratie, die in letzter Hinsicht aus diesem Widerspruch entsprang, verschärft ihn ihrerseits weiter.

Soziales Erscheinungsbild der herrschenden Schicht

In der sowjetrussischen politischen Literatur stößt man häufig auf Anprangerungen des „Bürokratismus“ als einer Art schlechter Denkgepflogenheiten oder Arbeitsweisen (die Anprangerungen sind immer von oben nach unten gerichtet und stellen eine Methode der Selbstverteidigung für die Spitzen dar). Was man aber nie antreffen kann, das sind Untersuchungen über die Bürokratie als herrschende Schicht, ihre zahlenmäßige Stärke, ihre Struktur, über ihr Fleisch und Blut, ihre Privilegien und Appetite, über den von ihr verschlungenen Anteil am Volkseinkommen. Indes, sie existiert. Und die Tatsache, dass sie so sorgfältig ihre soziale Physiognomie verbirgt bezeugt, dass sie das spezifische Bewusstsein der herrschenden „Klasse“ besitzt, das allerdings von der Überzeugtheit von ihrem Recht auf die Herrschaft noch weit entfernt ist.

Eine Darstellung der Sowjetbürokratie in genauen Zahlen ist ganz unmöglich, und zwar aus zweierlei Gründen: erstens ist es in einem Land. wo der Staat fast der einzige Unternehmer ist, schwer zu sagen, wo der Verwaltungsapparat aufhört; zweitens beobachten die Sowjetstatistiker, -ökonomen und -publizisten in der uns interessierenden Frage wie bereits gesagt ein besonders kompaktes Stillschweigen. Die „Freunde“ tun es ihnen nach. Bemerken wir beiläufig, dass die Webb in ihrem 1200 Seiten starken Wälzer auf die Sowjetbürokratie als soziale Kategorie überhaupt nicht eingehen. Kein Wunder: schrieben sie ja doch im Grunde unter deren Diktat!

Der zentrale Staatsapparat zählte am 1. November 1933 den offiziellen Angaben zufolge rund 55.000 Personen leitendes Personal. Doch in dieser Ziffer, die in den letzten Jahren außerordentlich gewachsen ist, sind nicht enthalten einerseits das Militär- und Marinewesen und die GPU, andererseits die Genossenschaftszentrale und die sogenannten gesellschaftlichen Organisationen wie die Ossoawiachim usw. Jede der Republiken hat außerdem noch ihren eigenen Regierungsapparat. Parallel zu den staatlichen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen und anderen Generalstäben, zum Teil eng mit ihnen verflochten, steht der mächtige Parteistab. Wir übertreiben kaum, wenn wir die kommandierende Spitze der UdSSR und der Republiken auf 400.000 Personen schätzen. Möglicherweise erreicht diese Zahl heute bereits die halbe Million. Es sind dies nicht einfach Beamte, sondern sozusagen „Würdenträger“. „Führer“, eine herrschende Kaste im eigentlichen Sinne des Wortes, freilich ihrerseits durch sehr bedeutende horizontale Scheidewände hierarchisch unterteilt.

Diese halbmillionenstarke Spitze ruht auf einer schweren Verwaltungspyramide mit breiter und weitverzweigter Grundlage. Die Vollzugsausschüsse der Gebiets-, Stadt- und Bezirkssowjets, zusammen mit den parallelen Organen der Partei, der Gewerkschaften und des Komsomol, den örtlichen Transportstellen, dem Kommandopersonal der Armee, der Flotte und der GPU-Agentur müssen eine Gesamtziffer ergeben, die sich den zwei Millionen nähert. Man vergesse auch nicht die Sowjetvorsitzenden von 600.000 Flecken und Dörfern!

Die unmittelbare Leitung der lndustrieunternehmungen lag 1933 (Angaben jüngeren Datums fehlen) in den Händen von 17.000 Direktoren und Stellvertretern. Das gesamte administrativ-technische Werks-, Fabrik- und Bergwerkspersonal, darunter auch dessen untere Glieder bis einschließlich der Aufseher, betrug rund 250.000 Mann (davon allerdings 54.000 Spezialisten ohne administrative Funktionen im eigentlichen Sinne des Wortes). Dahinzu muss auch der Partei- und Gewerkschaftsapparat in den Betrieben gerechnet werden, wo die Verwaltung bekanntlich vom „Dreieck“ ausgeübt wird (Direktion, Partei, Gewerkschaft). Eine Ziffer von einer halben Million für die Verwaltung der lndustrieunternehmungen von Bedeutung für die gesamte Union wird gegenwärtig nicht übertrieben sein. Dem muss man noch das Verwaltungspersonal der Betriebe in den einzelnen Republiken und lokalen Sowjets hinzufügen.

In einer anderen Aufstellung gibt die offizielle Statistik für 1933 mehr als 860.000 Administratoren und Spezialisten an für die Sowjetwirtschaft insgesamt, davon in der Industrie über 480.000, im Transportwesen über 100.000, in der Landwirtschaft 93.000, im Handel 25.000. Hierin sind zwar auch die Spezialisten ohne administrative Verfügungsgewalt mitgerechnet, nicht aber die Kolchosen oder Genossenschaften. Und diese Daten sind in den letzten zweieinhalb Jahren ebenfalls weit überholt worden.

Auf die 250.000 Kolchosen, rechnet man nur die Vorsitzenden und Parteiorganisatoren, entfällt eine halbe Million Administratoren. In Wirklichkeit ist ihre Zahl noch ungleich höher. Fügt man die Sowchosen und die Maschinen- und Traktorenstationen hinzu, so überschreitet die Gesamtzahl der Kommandeure der vergesellschafteten Landwirtschaft bei weitem die Million.

Der Staat hatte 1935 113.000 Handelsniederlassungen, das Genossenschaftswesen 200.000. Die Leiter beider sind im Grunde keine Handelsangestellten, sondern Staatsbeamte und darüber hinaus Monopolisten. Selbst die Sowjetpresse beklagt sich von Zeit zu Zeit darüber, dass die „Kooperatoren aufgehört haben, in den Kolchosmitgliedern ihre Wähler zu erblicken“. Als ob sich der Genossenschaftsmechanismus qualitativ vom Mechanismus der Gewerkschaften, der Sowjets und der Partei unterscheiden könnte!

Diese ganze Schicht, die nicht unmittelbar produktive Arbeit leistet, sondern leitet, anordnet, befiehlt, Gnaden austeilt und straft – die Lehrer und Gelehrten lassen wir beiseite – ist auf fünf bis sechs Millionen Personen zu schätzen. Diese Summenangabe erhebt, ebenso wie die sie zusammensetzenden Ziffern, keinesfalls auf Genauigkeit Anspruch; sie taugt aber immerhin als eine erste Annäherung. Sie gestattet, sich davon zu überzeugen, dass die „Generallinie“ der Führung keineswegs körperloser Geist ist.

In ihren verschiedenen Stockwerken ist die kommandierende Schicht, in der Richtung von unten nach oben, mit Kommunisten im Maße von 20 bis zu 90% durchsetzt. In der Gesamtmasse der Bürokratie bilden die Kommunisten und Komsomolzen ein Massiv von 1½ bis 2 Millionen; augenblicklich angesichts der unaufhörlichen Reinigungen eher weniger als mehr. Das ist das Knochengerüst der Staatsgewalt. Dieselben kommunistischen Verwalter bilden das Knochengerüst der Partei und des Komsomol. Die ehemalige kommunistische Partei ist heute nicht die Vorhut des Proletariats, sondern die politische Organisation der Bürokratie. Die rückständige Masse der Partei- und Komsomolmitglieder dient nur zur Aussonderung des „Aktivs“, d.h. der Reserve für die Selbstergänzung der Bürokratie. Denselben Zielen dient auch das parteilose „Aktiv“.

Hypothetisch kann man annehmen, dass die Arbeiter- und Kolchosaristokratie – Stachanowisten, parteilose Aktivisten, Vertrauenspersonen, Verwandte und Gevattern – der Zahl, die wir für die Bürokratie annahmen, – fünf bis sechs Millionen – ungefähr die Wage hält. Mit den Familien ergeben die beiden einander durchdringenden Schichten an die 20 bis 25 Millionen. Wir schätzen hier die Zahl der Familienmitglieder darum so niedrig ein, weil nicht selten Mann wie Frau, zuweilen auch der Sohn oder die Tochter zum Apparat gehören. Außerdem haben es die Frauen aus der herrschenden Schicht viel leichter, ihre Familie klein zu halten, als die Arbeiterinnen und insbesondere die Bäuerinnen. Die heutige Kampagne gegen die Abtreibungen geht von der Bürokratie aus, berührt sie selbst aber nicht. 12%, vielleicht 15% der Bevölkerung, das ist die wahre soziale Basis der selbstherrschenden Spitze.

Wenn ein eigenes Zimmer, ausreichende Nahrung, saubere Kleidung noch immer nur einer kleinen Minderheit zugänglich sind, trachten die Millionen Bürokraten, die großen wie die kleinen, danach, sich der Macht vor allen Dingen zur Sicherung des eigenen Wohlergehens zu bedienen. Daher der kolossale Egoismus dieser Schicht, ihr starker innerer Zusammenhalt, ihre Furcht vor der Unzufriedenheit der Massen, ihre zähe Wut bei der Erstickung jeglicher Kritik, schließlich ihre heuchlerisch-religiöse Verehrung des „Führers“, der die Macht und die Privilegien der neuen Herren verkörpert und schützt.

Die Bürokratie selber ist noch unvergleichlich weniger einheitlich als das Proletariat oder die Bauernschaft. Zwischen einem Dorfssowjetvorsitzenden und einem hohen Kremlbeamten klafft ein Abgrund. Das Dasein der unteren Beamten der verschiedenen Kategorien bewegt sich im Grunde genommen auf einem sehr primitiven Niveau, das an den Lebensstandard eines qualifizierten Arbeiters im Westen nicht herankommt. Aber alles ist relativ: das Niveau der umgebenden Bevölkerung ist noch erheblich tiefer. Das Geschick des Kolchosvorsitzenden, des Parteiorganisators, des unteren Genossenschaftlers hängt ebenso wenig wie das der höheren Beamten von den sogenannten „Wählern“ ab. Jeder Beamte kann von der ihm übergeordneten Instanz in jedem beliebigen Augenblick geopfert werden, um die Unzufriedenheit zu besänftigen. Aber dafür kann auch Jeder von ihnen gegebenenfalls eine Stufe höher steigen.

Sie alle sind – wenigstens bis zum ersten ernsten Stoß – durch gegenseitige Haftung mit dem Kreml verbunden.

Den Lebensbedingungen gemäß umfasst die herrschende Schicht alle Stufen vom Kleinbürgertum des Krähwinkels bis zur hauptstädtischen Großbourgeoisie. Den materiellen Bedingungen entsprechen die Gepflogenheiten, Interessen und der Ideenkreis. Die heutigen Führer der Sowjetgewerkschaften unterscheiden sich gar nicht so sehr von den Citrine, Jouhaux und Green, Andere Traditionen, eine andere Phraseologie, aber dasselbe verächtlich bevormundende Verhalten zur Masse, dieselbe gewissenlose Gewandtheit in zweitrangigen Manövern, derselbe Konservatismus. dieselbe Enge des Horizonts, dieselbe rücksichtslose Sorge um den eigenen Frieden, schließlich dieselbe Verehrung für die trivialsten Formen der bürgerlichen Kultur. Die Sowjetobersten und -generäle unterscheiden sich meistens wenig von den Obersten und Generälen der fünf Erdteile und sind jedenfalls bestrebt, ihnen möglichst stark zu ähneln. Die Sowjetdiplomaten haben von den westlichen Diplomaten nicht nur den Frack, sondern auch die Denkweise übernommen. Die Sowjetjournalisten prellen die Leser nicht weniger als ihre ausländischen Kollegen. wenn auch nicht auf dieselbe Manier.

Ist es schon schwierig, die eigentliche Bürokratie zahlenmäßig zu schätzen, noch schwerer ist es, ihre Einkünfte zu ermitteln. Bereits 1927 protestierte die Opposition dagegen, dass „der aufgeschwollene und privilegierte Verwaltungsapparat ... einen erheblichen Teil des Mehrwerts“ verschlingt. In der Oppositionsplattform wurde berechnet, dass allein der Handelsapparat „einen gewaltigen Anteil des Volkseinkommens [verschlingt]: mehr als ein Zehntel der Bruttoproduktion“. Danach ergriff die Macht die notwendigen Maßnahmen, um solche Berechnungen unmöglich zu machen. Doch eben darum sind die Unkosten nicht gesunken, sondern gestiegen.

Nicht besser als in der Sphäre des Handels steht es auch auf den anderen Gebieten. Es bedurfte, wie Rakowski 1930 schrieb, eines vorübergehenden Zanks zwischen der Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, damit die Bevölkerung aus der Presse erfuhr, dass von den 400 Millionen Rubeln des Gewerkschaftsbudgets 80 Millionen auf den Unterhalt des Personals draufgingen. Wir bemerken: es war nur vom legalen Budget die Rede. Darüber hinaus erhält ja die Gewerkschaftsbürokratie zum Zeichen der Freundschaft von der Industriebürokratie große Geldgeschenke, Wohnungen, Transportmittel usw. „Wie viel geht auf den Unterhalt der Partei-, Genossenschafts-, Kolchos-, Sowchos-, Industrie-, Verwaltungsapparate drauf mit allen ihren Verzweigungen?“ fragte Rakowski. „Darüber“, antwortete er, „fehlen uns selbst mutmaßliche Angaben“.

Das Fehlen von Kontrolle hat unvermeidlich Missbräuche zur Folge, und zwar auch in bezug auf Geld. Am 29. September 1935 konstatierte die Regierung, gezwungenermaßen, wieder einmal die Frage der schlechten Arbeit im Genossenschaftswesen aufs Tapet zu bringen, unter Molotows und Stalins Unterschrift, nicht zum ersten Mal das „Vorhandensein umfangreicher Diebstähle und Unterschlagungen und die verlustbringende Arbeit in vielen ländlichen Verbrauchervereinen“. Auf der Tagung des Zentralexekutivkomitees vom Januar 1936 beklagte sich der Volkskommissar für Finanzwesen darüber, dass die lokalen Exekutivkomitees eine ganz willkürliche Verausgabung der staatlichen Mittel zulassen. Wenn der Volkskommissar von den Zentralbehörden schwieg, so nur weil er selbst zu ihnen gehört.

Es besteht keinerlei Möglichkeit zu berechnen, welchen Teil des Volkseinkommens die Bürokratie sich aneignet. Dies ist nicht nur so, weil sie sorgfältig sogar ihre legalisierten Einkünfte verbirgt, und auch nicht nur, weil sie, weitgehend nicht vorgesehene Einkünfte genießt, und dabei die Grenze des Missbrauchs streift und häufig überschreitet. Sondern es ist hauptsächlich deshalb so, weil der gesamte Fortschritt des gesellschaftlichen Lebens, der städtischen Technik, des Komforts, der Kultur und der Kunst bislang vor allem, wenn nicht ausschließlich der privilegierten Spitzenschicht dient.

Hinsichtlich der Bürokratie als Verbraucherin kann man, mit den notwendigen Änderungen, wiederholen, was an anderer Stelle von der Bourgeoisie gesagt wurde: es gibt keinen Grund und es hat keinen Sinn, ihren Appetit nach einfachen Gebrauchsartikeln zu übertreiben.. Doch die Lage ändert sich schroff, sobald wir unser Augenmerk auf ihre fast monopolartige Nutznießung; der alten und neuen Errungenschaften der Zivilisation lenken. Formell stehen diese Güter natürlich der gesamten Bevölkerung offen oder wenigstens der städtischen, in Wirklichkeit aber hat diese dazu nur ausnahmsweise Zutritt. Die Bürokratie dagegen verfügt über sie in der Regel wann und soviel sie will, genau wie über Gegenstände ihres eigenen Hauswesens. Rechnet man nicht nur das Gehalt, alle Art Naturaldienste und mannigfachen halbgesetzlichen zusätzlichen Einkommensquellen. sondern fügt man dem auch den Anteil der Bürokratie und der Sowjetaristokratie an den Theatern, Erholungspalästen, Krankenhäusern, Sanatorien, Kurorten. Museen, Klubs, Sporteinrichtungen usw. usf. hinzu, so müsste man wahrscheinlich sagen, dass auf diese 15, sagen wir 20% der Bevölkerung nicht mehr und nicht weniger entfällt als auf die übrigen 80 bis 85%.

Möchten die „Freunde“ unsere Ziffern bestreiten? Dann sollen sie uns andere, genauere geben. Mögen sie die Bürokratie veranlassen, das Buch der Einnahmen und Ausgaben der Sowjetgesellschaft zu veröffentlichen. Bis dahin werden wir bei unserer Meinung bleiben. Die Verteilung des Bodens ist in der UdSSR unbestreitbar viel demokratischer als im zaristischen Russland und selbst in den demokratischsten Ländern des Westens. Aber mit Sozialismus hat das bisher noch recht wenig gemein.



Kapitel VII:
Familie, Jugend, Kultur