VIII. Außenpolitik und Heer


Von der Weltrevolution zum Status quo

Die Außenpolitik ist immer und überall eine Fortsetzung der Innenpolitik. denn sie wird von derselben herrschenden Klasse betrieben und verfolgt historisch dieselben Aufgaben. Die Entartung der herrschenden Schicht in der UdSSR musste mit einer entsprechenden Änderung in den Zielen und Methoden der Sowjetdiplomatie einhergehen. Bereits die „Theorie“ vom Sozialismus in einem Lande, die zum erstenmal im Herbst 1924 verkündet wurde, deutete auf den Wunsch hin, die Sowjetaußenpolitik vom Programm der internationalen Revolution zu befreien. Die Bürokratie hatte jedoch nicht im Sinn, dabei ihre Verbindung mit der Komintern zu liquidieren, denn diese hätte sich unvermeidlich in eine oppositionelle internationale Organisation verwandelt mit den daraus folgenden ärgerlichen Wirkungen auf das Kräfteverhältnis innerhalb der UdSSR Im Gegenteil, je weniger die Kremlpolitik sich von ihrem ehemaligen Internationalismus leiten ließ, um so fester nahm die herrschende Spitze das Ruder der Komintern in die Hand. Unter dem alten Namen musste die Komintern nunmehr neuen Zielen dienen. Für die neuen Ziele bedurfte es jedoch neuer Menschen. Ab Herbst 1923 ist die Geschichte der Komintern eine Geschichte der vollständigen Erneuerung ihres Moskauer Stabs und der Stäbe aller nationalen Sektionen vermittels einer Serie von Palastrevolutionen, Säuberungen von oben, Ausschlüssen usw. Gegenwärtig stellt die Komintern einen ganz und gar gehorsamen und allezeit zu jedem beliebigen Zickzack bereiten Apparat im Dienste der Sowjetaußenpolitik dar.

Die Bürokratie hat nicht nur mit der Vergangenheit gebrochen, sondern auch die Fähigkeit eingebüßt, deren wichtigste Lehren zu begreifen, Die bedeutendste dieser Lehren ist: die Sowjetmacht hätte keine zwölf Monate standgehalten, wären nicht die direkte Hilfe des internationalen, insbesondere des europäischen Proletariats und die revolutionäre Bewegung der Kolonialvölker gewesen. Ihren Angriff auf Sowjetrussland führte die österreichisch-deutsche Soldateska nur deswegen nicht zu Ende, weil sie in ihrem Rücken den glühenden Atem der Revolution verspürte. Nach knapp dreiviertel Jahr bereiteten die Aufstände in Deutschland und Österreich-Ungarn dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk ein Ende. Die Meuterei der französischen Matrosen im Schwarzen Meer vom April 1919 nötigte die Regierung der Dritten Republik, auf weitere Militäroperationen im Süden des Sowjetlandes zu verzichten. Die Regierung Großbritanniens zog im September 1919 unter dem unmittelbaren Druck der englischen Arbeiter ihre Expeditionstruppen aus dem Sowjetnorden zurück. Nach dem Rückzug der Roten Armee vor Warschau im Jahre 1920 hinderte nur die machtvolle Welle revolutionärer Proteste die Entente, Polen zu Hilfe zu kommen, um die Sowjets zu zerschmettern. Lord Curzon waren, als er 1923 Moskau das drohende Ultimatum stellte, im entscheidenden Augenblick durch den Widerstand der britischen Arbeiterorganisationen die Hände gebunden. Diese leuchtenden Episoden stehen nicht vereinzelt da. sie geben der ganzen ersten, allerschwersten Daseinsperiode der Sowjets die Farbe; wenn auch die Revolution außer in Russland nirgends siegte, die Hoffnungen auf sie waren nicht vergebens gewesen.

Die Sowjetregierung schloss bereits in jenen Jahren mehrere Verträge mit bürgerlichen Regierungen : den Vertrag von Brest-Litowsk vom März 1918, den Vertrag mit Estland im Februar 1920, den Frieden von Riga mit Polen im Oktober 1920, den Rapallovertrag mit Deutschland vom April 1922, und andere weniger bedeutende diplomatische Abkommen. Weder der Sowjetregierung als Ganzem, noch irgendeinem ihrer Mitglieder im besonderen konnte es jedoch in den Sinn kommen, ihre bürgerlichen Vertragspartner als „Friedensfreunde“ hinzustellen, und noch weniger, die kommunistischen Parteien Deutschlands, Polens oder Estlands aufzufordern. mit ihren Stimmen die bürgerlichen Regierungen, die diese Verträge abgeschlossen hatten, zu unterstützen. Indes ist gerade diese Frage von entscheidender Bedeutung für die revolutionäre Erziehung der Massen. Die Sowjets konnten nicht umhin, den Frieden von Brest-Litowsk zu unterzeichnen, wie restlos erschöpfte Streikende nicht umhin können, die härtesten Bedingungen des Kapitalisten anzunehmen: dass aber die deutsche Sozialdemokratie in der heuchlerischen Form der „Stimmenthaltung“ für diesen Frieden stimmte, wurde von den Bolschewiki als Unterstützung der Gewalt und der Gewalttätigen gebrandmarkt. Wenn das Rapalloabkommen mit dem demokratischen Deutschland vier Jahre später auch auf der Grundlage formeller „Gleichberechtigung“ der Partner getroffen wurde, so würde doch die deutsche Kommunistische Partei, wäre ihr bei diesem Anlass eingefallen, der Diplomatie ihres Landes das Vertrauen auszusprechen, sofort aus der Internationale ausgeschlossen worden sein. Die Grundlinie der internationalen Politik der Sowjets ging davon aus, dass diese oder jene Handels-, diplomatischen oder militärischen Abmachungen des Sowjetstaats mit den Imperialisten, an sich unvermeidlich, auf keinen Fall den Kampf des Proletariats der betreffenden kapitalistischen Länder beeinträchtigen oder abschwächen dürften, denn letzten Endes wird allein die Entwicklung der Weltrevolution dem Arbeiterstaat zum Heil gereichen. Als Tschitscherin während der Vorbereitung zur Genua-Konferenz vorschlug, mit Rücksicht auf die „öffentliche Meinung“ Amerikas an der Sowjetverfassung eine „demokratische“ Änderung vorzunehmen, empfahl Lenin in einem offiziellen Brief vom 23. Januar 1922 nachdrücklichst, Tschitscherin unverzüglich in ein Sanatorium zu schicken. Hätte sich damals irgend jemand erkühnt, die Gewogenheit eines „demokratischen“ Imperialismus durch den Beitritt sagen wir zum leeren und verlogenen Kelloggpakt oder durch eine Abschwächung der Kominternpolitik zu erkaufen, so würde Lenin seinerseits zweifellos vorgeschlagen haben, den Neuerer ins Irrenhaus zu stecken, und kaum würde er im Politbüro auf Widerstand gestoßen sein.

Besonders unversöhnlich zeigte sich die damalige Führung in bezug auf pazifistische Illusionen aller Art über Völkerbund, kollektive Sicherheit, Schiedsgerichtshöfe, Abrüstung usw. Sie erblickte darin nur ein Mittel, die Arbeitermassen einzulullen, um sie desto sicherer im Augenblick des Ausbruchs eines neuen Krieges zu überrumpeln. In dem von Lenin ausgearbeiteten und 1919 auf dem Kongress angenommenen Parteiprogramm finden wir darüber folgende unzweideutige Zeilen:

„Das wachsende Andrängen seitens des Proletariats und besonders seine Siege in einzelnen Ländern verstärken den Widerstand der Ausbeuter und rufen bei ihnen die Schaffung neuer Formen der internationalen Vereinigung der Kapitalisten hervor (Völkerbund usw.), die, indem sie die systematische Ausbeutung aller Völker der Erde im Wertmaßstab organisieren, ihre nächsten Anstrengungen darauf richten, die revolutionären Bewegungen des Proletariats in allen Ländern unmittelbar zu unterdrücken.

All dies führt unvermeidlich zur Verknüpfung des Bürgerkriegs innerhalb der einzelnen Staaten mit den revolutionären Kriegen sowohl der sich verteidigenden proletarischen Länder wie der unterdrückten Völker gegen das Joch der imperialistischen Mächte.
Unter diesen Bedingungen sind die Losungen des Pazifismus, der internationalen Abrüstung unter dem Kapitalismus der Schiedsgerichtshöfe usw. nicht nur eine reaktionäre Utopie, sondern auch ein direkter Betrug an den Werktätigen mit der Absicht, das Proletariat zu entwaffnen und es von der Aufgabe der Entwaffnung der Ausbeuter abzulenken“.

Diese Zeilen des bolschewistischen Programms enthalten eine vorweggenommene und darum wahrhaft schlagende Verurteilung der heutigen Sowjetaußenpolitik und der Politik der Komintern nebst all ihren pazifistischen „Freunden“ in allen Erdteilen.
Nach der Interventions- und Blockadeperiode erwies sich der wirtschaftliche und militärische Druck der kapitalistischen Welt auf die Sowjetunion allerdings erheblich schwächer, als man hatte befürchten können. Europa stand noch unter dem Zeichen des vergangenen, nicht des künftigen Krieges. Dann brach eine unerhörte Weltwirtschaftskrise herein, die die herrschenden Klassen der ganzen Welt mit Ohnmacht schlug. Nur dank diesen Umständen vermochte die Sowjetunion ungestraft die Probe des ersten Fünfjahresplans zu bestehen, während dessen das Land aufs neue zur Arena des Bürgerkriegs, Hungers und der Seuchen wurde. Die ersten Jahre des zweiten Fünfjahresplans die eine deutliche Besserung der inneren Lage der UdSSR mit sich brachten, fielen mit dem Beginn einer wirtschaftlichen Wiederbelebung in der kapitalistischen Welt, einem neuen Anschwellen der Hoffnungen, Appetite, der Ungeduld und der Kriegsrüstungen zusammen. Die Gefahr eines kombinierten Überfalls auf die UdSSR nimmt vor unseren Augen nur darum greifbare Formen an, weil das Land der Sowjets immer noch isoliert ist, weil auf dem „sechsten Teil der Erdoberfläche“ in bedeutenden Gebieten primitive Rückständigkeit herrscht, weit die Arbeitsproduktivität trotz Nationalisierung der Produktionsmittel noch viel niedriger ist als in den kapitalistischen Ländern, weil schließlich – und das ist jetzt das Wichtigste – die Haupttruppen des Weltproletariats geschlagen, ihrer selbst nicht sicher und einer verlässlichen Führung bar sind. So liefert die Oktoberrevolution, in der ihre Führer nur einen Ansatz zur Weltrevolution erblickten, die aber durch den Lauf der Dinge zeitweise selbstgenügsame Bedeutung erlangte, auf einer neuen Stufe der Geschichte den Beweis für ihre tiefe Abhängigkeit von der Weltentwicklung. Wieder wird es offenkundig, dass die historische Frage: „Wer wen?“ nicht im nationalen Rahmen gelöst werden kann, dass die Erfolge oder Misserfolge im Innern lediglich mehr oder weniger günstige Bedingungen für ihre Lösung auf der Weltarena schaffen.

Die Sowjetbürokratie – man muss ihr diese Gerechtigkeit widerfahren lassen – erwarb eine gewaltige Erfahrung in der Lenkung der Menschenmassen durch Einlullen, Teilung und Schwächung, durch direkten Betrug. um uneingeschränkt über sie herrschen zu können. Aber aus eben diesem Grund verlor sie jede Spur der Fähigkeit, die Massen revolutionär zu erziehen. Während sie daheim die Selbständigkeit und Initiative der unteren Volksschichten erstickt, kann sie in der Welt natürlich nicht kritisches Denken und revolutionären Wagemut wecken. Außerdem schätzt sie als herrschende und privilegierte Schicht im Westen weit mehr die Hilfe und Freundschaft der ihr dem sozialen Typus nach verwandten bürgerlichen Radikalen, reformistischen Parlamentarier, Gewerkschaftsbürokraten als die der von ihr sozial durch einen Abgrund getrennten einfachen Arbeiter. Hier ist nicht die Stelle für eine Geschichte des Verfalls und der Entartung der Dritten Internationale – eine Frage, der der Autor mehrere eigene Untersuchungen gewidmet hat, die in fast allen Sprachen der zivilisierten Welt veröffentlicht wurden. Tatmache ist, dass die nationalbeschränkte und konservative, ungebildete und verantwortungslose Sowjetbürokratie als Führerin der Komintern der Weltarbeiterbewegung nichts als Unheil gebracht hat. Gleichsam als geschichtliche Vergeltung ist die heutige internationale Lage der UdSSR in weit höherem Grade durch die Auswirkungen der Niederlagen des Weltproletariats bestimmt als durch die Fortschritte des isolierten sozialistischen Aufbaus. Es genügt daran zu erinnern, dass die Zerschlagung der chinesischen Revolution von 1925-1927, wodurch dem japanischen Militarismus im Osten die Hände gelöst wurden, und die Zerschlagung des deutschen Proletariats, die zu Hitlers Triumph und zum wütenden Wachsen des deutschen Militarismus führte, in gleichem Masse Früchte der Kominternpolitik sind.

Die thermidorianische Bürokratie verriet die Weltevolution, fühlte sich aber dabei selbst von ihr verraten, und richtete daraufhin ihre Hauptanstrengungen darauf, die Bourgeoisie zu „neutralisieren“. Dazu musste sie als gemäßigte, solide, echte Ordnungsstütze erscheinen. Um aber lange und mit Erfolg als etwas zu erscheinen. muss man es wirklich werden. Dafür sorgte die organische Entwicklung der herrschenden Schicht. So kam die Bürokratie, nach und nach vor den Auswirkungen der eigenen Fehler zurückweichend, auf den Gedanken, die Unantastbarkeit der UdSSR durch ihren Anschluss an das System des europäisch-asiatischen Status quo zu garantieren. Was kann es in der Tat Besseres geben als einen ewigen Nichtangriffspakt zwischen Sozialismus und Kapitalismus? Die heutige offizielle Formel der Außenpolitik. die nicht nur von der Sowjetdiplomatie, der es erlaubt ist, in der konventionellen Sprache ihres Handwerks zu reden, sondern auch von der Komintern, der es zustände, die Sprache der Revolution zu führen, breit propagiert wird, lautet: „Keinen Fußbreit Boden wollen wir, aber auch keinen Zoll unseres Bodens werden wir abtreten“. Als ob es sich um bloße Zusammenstöße wegen Stücken Bodens handelte und nicht um den weltumfassenden Kampf zweier unversöhnlicher Gesellschaftsordnungen!

Als die UdSSR es für ratsamer hielt, Japan die ostchinesische Eisenbahn abzutreten, wurde dieser durch den Zusammenbruch der chinesischen Revolution vorbereitete Schwächeakt als Äußerung selbstsicherer Kraft im Dienste des Friedens besungen. In Wirklichkeit hat die Sowjetregierung, dadurch dass sie diesen strategisch so ungemein wichtigen Schienenstrang dem Feinde auslieferte, es Japan. erleichtert, in Nordchina weitere Eroberungen zu machen und heute die Mongolei zu bedrohen. Das erzwungene Opfer bedeutete keine „Neutralisierung“ der Gefahr, sondern bestenfalls einen kurzen Aufschub, und entfachte gleichzeitig außerordentliche den Appetit der regierenden Militärclique in Tokio.

Die Frage der Mongolei ist bereits eine Frage der nächstgelegenen strategischen Positionen Japans im Kriege gegen die UdSSR Die Sowjetregierung sah sich diesmal gezwungen, offen zu erklären, dass sie auf einen Einfall der japanischen Truppen in die Mongolei mit Krieg antworten werde. Indes handelt es sich hier gar nicht unmittelbar um den Schutz „unseres Bodens“: die Mongolei ist ein unabhängiger Staat.

Die passive Verteidigung der Sowjetgrenzen schien zu genügen in einer Periode, als niemand sie ernsthaft bedrohte. Die wirkliche Methode, die UdSSR zu verteidigen, besteht darin, die Positionen des Imperialismus zu schwächen und die Positionen des Proletariats und der Kolonialvölker in der ganzen Welt zu stärken. Ein ungünstiges Kräfteverhältnis kann dazu zwingen, so manchen „Fußbreit“ Bodens abzutreten, wie dies bei den Frieden von Brest-Litowsker und dann von Riga und schließlich bei der Abtretung der ostchinesischen Eisenbahn der Fall war. Zugleich macht es der Kampf um eine vorteilhafte Änderung des Weltkräfteverhältnisses dem Arbeiterstaat zur ständigen Pflicht, den Befreiungsbewegungen in den anderen Ländern zu Hilfe zu eilen, Aber diese Hauptaufgabe steht eben in unversöhnlichem Widerspruch zur konservativen Status-quo-Politik 

Völkerbund und Komintern

Die durch den Sieg des deutschen Nationalsozialismus verursachte Annäherung und dann direkte militärische Verständigung mit Frankreich, dem hauptsächlichen Hüter des Status quo, bringt Frankreich ungleich größere Vorteile als den Sowjets. Die Verpflichtung der UdSSR zu militärischem Beistand ist laut Vertrag eine unbedingte; der Beistand Frankreichs hingegen ist bedingt durch das vorherige Einverständnis Englands und Italiens, was den der UdSSR feindlichen Machenschaften ein unbeschränktes Feld offen lässt. Die mit der Wiederbesetzung der Rheinlandzone verbundenen Ereignisse bewiesen, dass Moskau bei realistischerer Einschätzung der Lage und größerem Nachdruck von Frankreich viel ernstere Garantien hätte erlangen können, soweit Verträge überhaupt als „Garantien“ angesehen werden können in einer Epoche schroffer Wendungen in der Lage, beständiger diplomatischer Krisen, Annäherungen und Abbrüchen der Beziehungen. Doch nicht zum erstenmal zeigt es sich, dass die Sowjetbürokratie viel mehr Festigkeit im Kampf gegen die fortgeschrittenen Arbeiter ihres eigenen Landes aufbringt, als in den Verhandlungen mit bürgerlichen Diplomaten.

Den Behauptungen, die Hilfe Russlands sei wenig wirksam angesichts des Fehlens einer gemeinsamen Grenze zwischen der UdSSR und Deutschland, kann man keine ernste Bedeutung beimessen. Im Falle eines Angriffs Deutschlands auf die UdSSR wird die angreifende Seite die notwendige gemeinsame Grenze schon finden. Im Falle eines Angriffs Deutschlands auf Österreich, die Tschechoslowakei oder Frankreich kann Polen nicht einen Tag lang neutral bleiben: anerkennt es seine Bundespflichten gegenüber Frankreich, so wird es unvermeidlich der Roten Armee den Durchmarsch gestatten; bricht es dagegen seinen Bündnisvertrag, so wird es unverzüglich Deutschlands Helfer werden: in diesem Fall wird die UdSSR ohne Mühe die „gemeinsame Grenze“ finden. Obendrein spielen im kommenden Krieg die See- und Luft„grenzen“ eine nicht geringere Rolle als die zu Lande.

Der Eintritt der UdSSR in den Völkerbund, der dem eigenen Volk mit Hilfe einer des Herrn Goebbels würdigen Regie als Triumph des Sozialismus und Resultat des „Drucks“ seitens des Weltproletariats geschildert wurde, war für die Bourgeoisie nur infolge der großen Abschwächung der revolutionären Gefahr annehmbar: es war kein Sieg der UdSSR, sondern eine Kapitulation der thermidorianischen Bürokratie vor der durch und durch kompromittierten Genfer Anstalt, die nach den uns bereits bekannten Worten des Programms „ihre nächsten Anstrengungen darauf richtet, die revolutionären Bewegungen zu unterdrücken“. Was hat sich seit der Zeit, als die Charte des Bolschewismus angenommen wurde, so grundlegend verändert: das Wesen des Völkerbunds, die Funktion des Pazifismus in der kapitalistischen Gesellschaft oder die Politik der Sowjets? Diese Frage stellen, heißt sie bereits beantworten.

Die Erfahrung sollte bald zeigen, dass die Beteiligung am Völkerbund nichts einbrachte, außer praktischen Vorteilen, die man auch durch Abkommen mit den einzelnen bürgerlichen Regierungen erreichen konnte. dafür aber erhebliche Einschränkungen und Pflichten auferlegt, die gerade von der UdSSR im Interesse ihres noch frischen konservativen Prestiges aufs pedantischste erfüllt werden. Die Notwendigkeit, sich innerhalb des Völkerbunds nicht nur nach Frankreich, sondern auch nach dessen Verbündeten zu richten, zwang die Sowjetdiplomatie zu einer äußerst zweideutigen Haltung im italienisch-äthiopischen Konflikt. Während Litwinow, der in Genf nur Lavals Schatten war, Frankreichs und Englands Diplomaten seinen Dank aussprach für ihre Bemühungen „zugunsten des Friedens“, die so glücklich durch Äthiopiens Eroberung gekrönt wurden, versorgte das kaukasische Erdöl nach wie vor die italienische Flotte. Kann man noch verstehen, dass die Moskauer Regierung es vermied, offen den Handelsvertrag zu brechen, die Gewerkschaften jedenfalls waren nicht verpflichtet, auf die Verpflichtungen des Außenhandelssekretariats Rücksicht zu nehmen. Eine faktische Einstellung des Exports nach Italien auf Beschluss der Sowjetgewerkschaften hätte zweifellos eine weltumfassende Boykottbewegung ausgelöst, die unvergleichlich wirksamer gewesen wäre als die heimtückischen, vorher von den Diplomaten und Juristen im Einverständnis mit Mussolini abgemessenen „Sanktionen“, Wenn jedoch die Sowjetgewerkschaften zum Unterschied von 1926, als sie offen Millionen von Rubeln für den britischen Bergarbeiterstreik sammelten, es diesmal nicht wagten. den kleinen Finger zu rühren, so nur, weil ihnen eine derartige Initiative von der herrschenden Bürokratie, hauptsächlich Frankreich zu Gefallen, untersagt war. Indes, keine Militärbündnisse werden im nächsten Weltkrieg die UdSSR für das verlorene Vertrauen Seitens der Kolonialvölker wie überhaupt der werktätigen Massen entschädigen.

Begreift man das etwa nicht im Kreml? „Das Hauptziel des deutschen Faschismus“, antwortet uns ein halb. amtliches Sowjetblatt, „bestand in der Isolierung der UdSSR. Und nun? Die UdSSR hat jetzt mehr Freunde in der Welt denn je“ (Iswestija, 17. Sept. 1935). Das italienische Proletariat vom Faschismus in Fesseln geschlagen, die chinesische Revolution zerschlagen und Japan schaltet und waltet in China, – das deutsche Proletariat derart zermalmt, dass Hitlers Plebiszite auf keinerlei Widerstand stoßen; das Proletariat Österreichs an Händen und Füßen gefesselt, die revolutionären Parteien auf dem Balkan zertreten, – in Frankreich und Spanien laufen die Arbeiter im Fahrwasser der radikalen Bourgeois. Und trotz alledem hat die Sowjetregierung seit ihrem Eintritts in den Völkerbund „mehr Freunde in der Welt denn je“! Diese auf den ersten Blick fantastisch erscheinende Prahlerei bekommt durchaus realen Sinn, bezieht man sie nicht auf den Arbeiterstaat, sondern auf die herrschende Schicht. Gerade die grausamen Niederlagen des Weltproletariats erlaubten ja der Sowjetbürokratie, im eigenen Lande die Macht zu usurpieren und sich das mehr oder weniger große Wohlwollen der „öffentlichen Meinung“ in den kapitalistischen Ländern zu verdienen. Je weniger die Komintern imstande ist, die Positionen des Kapitals zu gefährden, um so kreditfähiger wird damit politisch die Kremlregierung in den Augen der französischen, tschechischen und anderen Bourgeoisien. So erweist sich die interne und internationale Stärke der Bürokratie als umgekehrt proportional zur Stärke der UdSSR als sozialistischem Staat und Stützbasis der proletarischen Revolution. Allein, dies ist nur die eine Seite der Medaille, es gibt noch eine andere.

Lloyd George, dessen Bocksprünge und Sensationen nicht selten große Scharfsichtigkeit durchblicken lassen, warnte im November 1934 das Unterhaus vor einer Verurteilung des faschistischen Deutschland, das seinen Worten nach berufen sei, das zuverlässigste Bollwerk gegen den Kommunismus in Europa zu werden. „Wir werden es noch als unseren Freund begrüßen“. Hochbedeutende Worte! Die halb gönnerhaften, halb ironischen Lobe seitens der Weltbourgeoisie gegenüber dem Kreml sind an sich nicht die mindeste Garantie für den Frieden oder auch nur eine Linderung der Kriegsgefahr. Die Evolution der Sowjetbürokratie interessiert die Weltbourgeoisie letzten Endes vom Gesichtspunkt möglicher Veränderungen der Eigentumsformen. Napoleon I., der radikal mit den jakobinischen Traditionen Schluss gemacht, sich die Krone aufgesetzt und den katholischen Kult wiedereingeführt hatte, blieb nichtsdestoweniger Gegenstand des Hasses des gesamten regierenden, halbfeudalen Europa, insofern er das von der Revolution geschaffene neue Eigentum zu schützen fortfuhr. Solange das Außenhandelsmonopol nicht aufgehoben und das Kapital nicht wieder in seine Rechte eingesetzt ist, bleibt in den Augen der Bourgeoisie der ganzen Welt die UdSSR trotz aller Verdienste ihrer herrschenden Schicht, ein unversöhnlicher Feind und der deutsche Nationalsozialismus ein Freund, wenn nicht von heute, so von morgen. Bereits während der Unterhandlungen Barthous und Lavals mit Moskau weigerte sich die französische Großbourgeoisie beharrlich, auf die Sowjetkarte zu setzen, trotz der scharfen Gefahr seitens Hitler und der jähen Wendung der französischen kommunistischen Partei zum Patriotismus. Der Unterzeichner des Paktes mit der UdSSR, Laval, wurde von den Linken beschuldigt, er habe, indem er Berlin mit Moskau schreckte, in Wirklichkeit eine Annäherung mit Berlin und Rom gegen Moskau gesucht, Diese Darstellung nimmt vielleicht die Ereignisse etwas vorweg, steht aber keineswegs im Widerspruch zu ihrer natürlichen Entwicklung.

Gleichwie man auch die Vor- und Nachteile des französisch-russischen Paktes beurteilt, kein einziger revolutionärer Politiker wird dem Sowjetstaat das Recht absprechen, in zeitweiligen Abkommen mit dem einen oder anderen Imperialismus ergänzenden Schutz für seine Unantastbarkeit zu suchen. Man muss nur klar und deutlich den Massen die Stelle weisen, die ein solches taktisches Teilabkommen im allgemeinen System der historischen Kräfte einnimmt. Um im besonderen den französisch-deutschen Gegensatz auszunutzen, ist es nicht im geringsten erforderlich, den bürgerlichen Verbündeten oder die Imperialistenkombination, die sich momentan hinter dem Schirm des Völkerbunds verbirgt, zu idealisieren, Indes, die Sowjetdiplomatie und in ihrem Gefolge die Komintern tünchen systematisch jeden episodischen Verbündeten Moskaus in einen „Friedensfreund“ um, täuschen die Arbeiter mit Losungen wie „kollektive Sicherheit“ und „Abrüstung“ und werden den Arbeitermassen gegenüber in Wirklichkeit zur politischen Agentur des Imperialismus.

Das berüchtigte Interview, das Stalin dem Vorsitzenden der Scripps-Howard Newspapers, Roy Howard, am 1. März 1936 gab, ist ein unschätzbares Dokument zur Charakterisierung der bürokratischen Blindheit in den großen Fragen der Weltpolitik und der Verlogenheit, die zwischen den Führern der UdSSR und der Weltarbeiterbewegung gang und gäbe geworden ist. Auf die Frage: Ist ein Krieg unvermeidlich? antwortet Stalin: „Ich bin der Meinung, dass die Positionen der Friedensfreunde sich festigen: die Friedensfreunde können offen arbeiten, sie stützen sich auf die Macht der öffentlichen Meinung, es stehen ihnen Instrumente zur Verfügung wie beispielsweise der Völkerbund“. In diesen Worten steckt nicht ein Körnchen Realismus. Die bürgerlichen Staaten teilen sich durchaus nicht in Friedens„freunde“ und Friedens„feinde“, um so weniger, als es überhaupt keinen „Frieden“ an sich gibt, Jedes imperialistische Land ist an der Erhaltung seines Friedens interessiert, und zwar um so heftiger, je unerträglicher dieser Frieden für seine Gegner ist. Die den Stalin, Baldwin, Léon Blum usw. gemeinsame Formel: „Der Frieden wäre wirklich gesichert“ wenn alle Staaten sich im Völkerbund zu seinem Schutz zusammenschlössen“, bedeutet nur, dass der Frieden gesichert wäre, gäbe es keine Ursachen ihn zu verletzen. Der Gedanke ist wohl richtig“ aber nicht sehr gehaltvoll, Die Großmächte, die dem Völkerbund nicht angehören, wie die Vereinigten Staaten, schätzen eine freie Hand offenbar mehr als die Abstraktion „Frieden“. Wozu sie freie Hand brauchen, das werden sie zu gegebener Zeit schon zeigen. Die Staaten, die aus dem Völkerbund austreten, wie Japan und Deutschland, oder sich zeitweilig von ihm „entfernen“, wie Italien, haben dafür ebenfalls genug materielle Gründe. Ihr Bruch mit dem Völkerbund verändert nur die diplomatische Form der Gegensätze, nicht aber ihr Wesen noch das des Völkerbunds selbst. Die Gerechten, die da dem Völkerbund ewige Treue schwören, gedenken ihn nur um so entschiedener zur Wahrung ihres Friedens auszunutzen. Doch auch zwischen ihnen herrscht kein Einvernehmen. England ist vollauf bereit, die Friedensperiode zu verlängern, wenn es auf Kosten der Interessen Frankreichs in Europa oder Afrika geschieht, Frankreich seinerseits ist bereit, die Sicherheit der britischen Seewege zu opfern, um Italiens Unterstützung zu erlangen. Aber sie alle sind bereit zur Verteidigung der eigenen Interessen, zum Krieg zu greifen. versteht sich: zum gerechtesten aller Kriege. Schließlich werden die Kleinstaaten, die mangels eines Besseren im Schatten des Völkerbunds Schutz suchen, letzten Endes nicht auf der Seite des „Friedens“, sondern der stärksten Gruppe im Kriege stehen.
Der Völkerbund zur Verteidigung des Status quo ist kein „Friedens“verein, sondern eine Organisation der Gewalt der imperialistischen Minderheit über die erdrückende Mehrheit der Menschheit. Diese „Ordnung“ lässt sich nur mit Hilfe beständiger Kriege, großer und kleiner, aufrechterhalten, heute in den Kolonien, morgen zwischen den Mutterländern. Die imperialistische Treue zum Status quo ist immer eine bedingte, zeitweilige und begrenzte. Italien war gestern für den Status quo in Europa, aber nicht in Afrika; welches morgen seine Politik in Europa sein wird, ist niemandem bekannt. Doch bereits die Grenzveränderung in Afrika wirkte sofort auf Europa zurück. Hitler wagte nur darum, mit seinen Truppen die Rheinlandzone wiederzubesetzen, weil Mussolini über Abessinien herfiel. Schwerlich kann man Italien zu den Friedens„freunden“ zählen. Indes, Frankreich liegt Italiens Freundschaft weit mehr am Herzen als die der Sowjetunion. England seinerseits sucht Deutschlands Freundschaft. Die Gruppierungen wechseln, die Appetite bleiben. Die Aufgabe der sogenannten Anhänger des Status quo besteht im wesentlichen darin, im Völkerbund die vorteilhafteste Kräftekombination und die günstigste Deckung für die Vorbereitung des künftigen Krieges zu finden. Wer ihn und wie er beginnen wird, das hängt von Umständen zweiter Ordnung ab. Doch irgendwer wird anfangen müssen, denn der Status quo ist ein einziges großes Pulverfass.

Das Programm der „Abrüstung“ bei Erhaltung der imperialistischen Gegensätze ist die schädlichste aller Fiktionen. Selbst wenn sie durch ein allgemeines Einvernehmen verwirklicht wäre – eine sichtlich fantastische Annahme! – würde dadurch keinesfalls ein neuer Krieg verhindert. Die Imperialisten führen nicht Krieg, weil sie Waffen haben, sondern umgekehrt: sie schmieden Waffen, weil sie Krieg führen müssen. Die Möglichkeit einer neuen, dabei sehr raschen Wiederaufrüstung ist durch die moderne Technik gegeben. Bei allen Vereinbarungen, Beschränkungen und „Abrüstungen“ verlieren die Waffenlager, Kriegsfabriken, Laboratorien, die kapitalistische Industrie in ihrer Gesamtheit nichts von ihrer Stärke. So wird das unter wachsamer Kontrolle der Sieger entwaffnete Deutschland (nebenbei gesagt die einzig reale Form der „Abrüstung“!) dank seiner mächtigen Industrie wieder zur Zitadelle des europäischen Militarismus. Es schickt sich seinerseits an, gewisse Nachbarn zu „entwaffnen“. Der Gedanke der sogenannten „allmählichen Abrüstung“ ist nur ein Versuch, in Friedenszeiten die über das Maß der Kräfte gehenden Militärausgaben herabzuschrauben: es ist eine Frage der Kasse und nicht der Friedensliebe, Doch auch dies Vorhaben erweist sich als undurchführbar. Infolge der Verschiedenheiten in der geographischen Lage, der ökonomischen Macht und der Sättigung mit Kolonien müsste jede beliebige Abrüstungsnorm das Kräfteverhältnis zum Vorteil der einen und zum Nachteil der anderen verändern. Daher die Fruchtlosigkeit der Genfer Versuche. Beinahe zwanzig Jahre Verhandlungen und Unterredungen über die Abrüstung haben lediglich zu einer neuen Aufrüstungswelle geführt, die alles übertrifft, was auf diesem Gebiet je zu sehen war, Die revolutionäre Politik des Proletariats auf das Abrüstungsprogramm bauen, heißt nicht einmal auf Sand bauen, sondern auf den Rauchschleier des Militarismus.

Die Abwürgung des Klassenkampfs im Interesse eines ungehinderten Verlaufs des imperialistischen Krieges ist nur durch Vermittlung seitens der Führer der Arbeitermassenorganisationen zu erreichen. Die Losungen, unter denen diese Aufgabe 1914 gelöst wurde: „der letzte Krieg“, „Krieg gegen den preußischen Militarismus“, „Krieg für die Demokratie“, sind durch die Geschichte der letzten zwei Jahrzehnte zu stark kompromittiert. Die „kollektive Sicherheit“ und die „allgemeine Abrüstung“ lösten sie ab, Unter dem Schein der Unterstützung des Völkerbunds bereiten die Führer der europäischen Arbeiterorganisationen eine Neuauflage der „heiligen Einheit“, des „Burgfriedens“ vor, die der Krieg nicht weniger notwendig braucht als Tanks, Flugzeuge und „verbotene“ Giftgase.

Die Dritte Internationale wurde aus dem empörten Protest gegen den Sozialpatriotismus geboren. Doch der revolutionäre Gehalt, den ihr die Oktoberrevolution verlieh, ist längst dahin. Die Komintern steht heute ebenso wie die Zweite Internationale im Zeichen des Völkerbunds, nur mit einem frischeren Vorrat an Zynismus. Als der britische Sozialist Sir Stafford Cripps den Völkerbund als eine internationale Banditenvereinigung bezeichnete – was vielleicht unhöflich, aber gar nicht so unrichtig ist – fragte die Times ironisch: „Wie soll man sich in diesem Fall den Beitritt der Sowjetunion zum Völkerbund erklären?“ Die Antwort ist nicht so leicht. So verleiht heute die Moskauer Bürokratie dem Sozialpatriotismus, dem die Oktoberrevolution seinerzeit einen vernichtenden Schlag versetzte, eine mächtige Stütze.

Roy Howard versuchte, darüber Aufklärung zu erhalten. „Wie steht es“, fragte er Stalin, „mit den Plänen und Absichten in bezug auf die Weltrevolution?“ „Solche Pläne und Absichten hatten wir niemals“. „Ja aber...“ „Das ist die Folge eines Missverständnisses“. Howard: „Eines tragischen Missverständnisses?“ Stalin „Nein, eines komischen, oder eher: eines tragikomischen“. Wir zitieren wörtlich. „Ich sehe nicht “, fuhr Stalin fort, „welche Gefahr die umliegenden Staaten in den Ideen der Sowjetmenschen sehen können, wenn diese Staaten tatsächlich fest im Sattel sitzen?“ Wenn sie nun aber – hätte der Interviewer fragen können – nicht so fest sitzen? Stalin führte noch ein beruhigendes Argument an: „Export der Revolution – das ist Unsinn. Jedes Land führt seine Revolution selbst durch, wenn es so will, wenn es aber nicht will, so wird es keine Revolution geben. Unser Land zum Beispiel wollte die Revolution durchführen und hat sie durchgeführt.“ Wohlgemerkt, wir zitieren wörtlich. Von der Theorie des Sozialismus in einem Lande ist ein ganz natürlicher Übergang zur Theorie der Revolution in einem Lande. Wozu aber dann die Internationale?, könnte der Interviewer fragen. Aber er ist sichtlich an der Grenze seiner berechtigten Neugier angelangt. In Stalins beruhigenden Erklärungen, die nicht nur von Kapitalisten, sondern auch von Arbeitern gelesen werden, klaffen jedoch Lücken. Bevor „unser Land“ die Revolution durchführen wollte, importierten wir die Ideen des Marxismus aus verschiedenen Ländern und machten uns fremde revolutionäre Erfahrung zunutze. Wir hatten jahrzehntelang im Ausland unsere Emigration, die den Kampf in Russland leitete. Wir erhielten moralische und materielle Hilfe von den Arbeiterorganisationen Europas und Amerikas. Nach unserem Sieg organisierten wir 1919 die Kommunistische Internationale. Wir proklamierten mehr als einmal die Pflicht des Proletariats im Lande der siegreichen Revolution, den unterdrückten und aufständischen Klassen zu Hilfe zu eilen, und zwar nicht nur mit Ideen, sondern wenn möglich auch mit der Waffe. Wir begnügten uns nicht mit Erklärungen. Wir halfen seinerzeit mit Waffengewalt den Arbeitern Finnlands, Lettlands, Estlands, Georgiens. Wir machten den Versuch, einem Aufstand des polnischen Proletariats durch den Marsch der Roten Armee auf Warschau beizustehen. Wir schickten Organisatoren und Kommandeure, um den aufständischen Chinesen zu helfen. 1926 sammelten wir Millionen Rubel für die britischen Streikenden. Jetzt stellt sich heraus, dass all das nur ein Missverständnis war. Ein tragisches? Nein, ein komisches. Nicht von ungefähr erklärte Stalin, das Leben in der Sowjetunion sei eine „Lust“ geworden: selbst die Kommunistische Internationale verwandelte sich aus einer ernsten in eine komische Figur.

Stalin würde auf seinen Gesprächspartner einen überzeugenderen Eindruck gemacht haben, hätte er, statt die Vergangenheit zu verleumden, die Politik des Thermidor offen der Politik des Oktober gegenübergestellt. „In Lenins Augen“, so hätte er sagen sollen, „war der Völkerbund eine Maschine zur Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges. Wir erblicken in ihm ein Instrument des Friedens. Lenin sprach von der Unvermeidlichkeit revolutionärer Kriege. Wir aber halten den Export der Revolution für einen Unsinn. Lenin brandmarkte ein Bündnis des Proletariats mit der imperialistischen Bourgeoisie als Verrat. Wir jedoch stoßen mit allen Kräften das internationale Proletariat auf diesen Weg. Lenin geißelte die Losung der Abrüstung unter dem Kapitalismus als Betrug an den Werktätigen. Wir hingegen bauen auf diese Losung unsere gesamte Politik. „Ihr tragikomisches Missverständnis“, so hätte Stalin enden können, „besteht darin, dass Sie uns für die Fortsetzer des Bolschewismus halten, während wir doch seine Totengräber sind“.

Die Rote Armee und ihre Doktrin

Der alte russische Soldat, erzogen in den patriarchalischen Bedingungen des Dorf-„Mir“, zeichnete sich am meisten durch seinen blinden Herdengeist aus. Suworow, Generalissimus Katharinas II. und Pauls I., war der unbestrittene Meister des Heers aus leibeigenen Sklaven. Die große französische Revolution machte der Militärkunst des alten Europa und des zaristischen Russland auf immerdar den Garaus. Das Imperium verzeichnete freilich in seiner Geschichte auch später noch gewaltige Gebietsaneignungen, doch Siege über Armeen zivilisierter Nationen kannte es bereits nicht mehr. Es bedurfte einer Reihe äußerer Niederlagen und innerer Erschütterungen, um in ihrem Feuer den Nationalcharakter umzuschmelzen. Erst auf der neuen sozialen und psychologischen Grundlage konnte die Rote Armee entstehen. Passivität, Herdengeist und Unterordnung unter die Natur machten in den jungen Generationen Wagemut und einem Kult der Technik Platz. Mit dem Erwachen der Persönlichkeit begann ein rasches Steigen des Kulturniveaus. Die analphabetischen Rekruten werden immer seltener; die Rote Armee entlässt niemanden, der nicht lesen und schreiben kann. In der Armee und in ihrem Umkreis entwickeln sich stürmisch alle Arten Sport. Unter den Arbeitern, Angestellten und Studierenden gelangte die Auszeichnung für gutes Schießen zu großer Popularität. Skier vermitteln den Truppenteilen in den Wintermonaten eine früher nicht erreichte Beweglichkeit. Auf dem Gebiet des Fallschirmspringens, des motorlosen Gleitflugs und des Flugwesens werden hervorragende Erfolge erzielt. Die arktischen Flüge und die Aufstiege in die Stratosphäre sind in aller Gedächtnis. Diese Gipfel charakterisieren die gesamte Gebirgskette des Erreichten.

Es besteht kein Grund, das Organisations- oder Operativniveau der Roten Armee in den Bürgerkriegsjahren zu idealisieren, Für den jungen Kommandostab war es jedoch die Zeit einer großen Feuertaufe, Einfache Soldaten der Zarenarmee, Unteroffiziere, Fähnriche bewiesen Organisatoren- und Heerführertalente und stählten ihren Willen in einem Kampf großen Ausmaßes. Diese Autodidakten sollten mehr als einmal geschlagen werden, aber letzten Endes siegten sie doch. Die besten von ihnen haben dann fleißig studiert. Unter den heutigen Oberbefehlshabern, die samt und sonders durch die Bürgerkriegsschule gegangen sind, hat die überwiegende Mehrzahl die Akademie oder spezielle Vervollkommnungskurse absolviert. Von dem alten Kommandobestand erhielt rund die Hälfte die höchste militärische Auszeichnung, die anderen die mittlere. Die Kriegstheorie hat ihnen die notwendige Denkdisziplin vermittelt, ohne aber ihren in den dramatischen Operationen des Bürgerkriegs geweckten Wagemut zu töten. Diese Generation ist jetzt rund 40 bis 50 Jahre alt, d.h. im Alter des Gleichgewichts der körperlichen und geistigen Kräfte, wo kühne Initiative sich auf Erfahrung stützt, aber noch nicht von ihr erdrückt wird.

Partei, Komsomol, Gewerkschaften – selbst unabhängig davon, wie sie ihre sozialistische Mission erfüllen – die Verwaltungen der nationalisierten Industrie, des Genossenschaftswesens, der Kolchosen und Sowchosen – selbst unabhängig davon, wie sie mit ihren Wirtschaftsaufgaben fertig werden – bilden zahllose Kader junger Verwalter heran, gewohnt, mit Menschen- und Warenmassen umzugehen und sich mit dem Staat zu identifizieren: sie sind die natürliche Reserve des Kommandostabs. Die höhere Vordienstausbildung der studierenden Jugend bildet ein anderes selbständiges Reservoir. Die Studenten sind in besonderen Lehrbataillonen zusammengefasst, die sich im Mobilisierungsfalle in Schnellschulen für den Kommandostab verwandeln können. Zur Beurteilung des Umfangs dieser Quelle genügt es darauf hinzuweisen, dass die Zahl der jährlich die höheren Lehranstalten Absolvierenden momentan 80.000 beträgt, die Zahl der Studenten hat die halbe Million überschritten, und die Gesamtzahl der Schüler sämtlicher Lehranstalten des Landes ist annähernd 28 Millionen.

Auf dem Gebiet der Wirtschaft, besonders der Industrie, brachte die soziale Umwälzung der Sache der Verteidigung Vorzüge, wie sie das alte Russland nicht einmal ahnen konnte. Die Planmethoden bedeuten dem Wesen nach eine ständige Mobilisierung der Industrie in den Händen der Regierung und gestatten es, schon beim Bau und bei der Ausstattung der neuen Unternehmungen die Interessen der Verteidigung voranzustellen. Was das Verhältnis zwischen lebendiger und mechanischer Kraft angeht, darf die Rote Armee im großen und ganzen als auf dem Niveau der fortgeschrittenen Armeen des Westens stehend betrachtet werden. Hinsichtlich der Neuausrüstung der Artillerie wurden bereits während des ersten Fünfjahresplans ausschlaggebende Erfolge errungen. Riesige Mittel werden aufgebracht zur Herstellung von Transportern, leichten und schweren Panzern und Flugzeugen. Im Lande gibt es jetzt rund eine halbe Million Traktoren; 1936 sollen 160,000 Stück fertiggestellt werden mit einer Gesamtleistung von 8,5 Millionen Pferdestärken. Die Panzerfabrikation hält damit Schritt. Die Mobilmachungspläne der Roten Armee rechnen mit 30 bis 45 Tanks pro Kilometer aktiver Front.

Der Weltkrieg hatte einen Rückgang der Seeflotte von 548.000 Tonnen im Jahre 1917 auf 82.000 im Jahre 1928 zur Folge. Hier galt es fast ganz von vorn anzufangen. Im Januar 1936 erklärte Tuchatschewski auf der Sitzung des Zentralexekutivkomitees: „Wir schaffen eine mächtige Seeflotte: in erster Linie konzentrieren wir unsere Bemühungen auf die Entwicklung der Unterseeflotte“. Der japanische Marinestab dürfte über die auf diesem Gebiet erzielten Fortschritte gut unterrichtet sein. Nicht weniger Aufmerksamkeit wird jetzt der Ostsee gewidmet. Trotzdem wird die Kriegsmarine in den kommenden Jahren bei der Verteidigung der Seegrenzen lediglich eine Hilfsrolle beanspruchen können.

Dafür ist die Luftflotte weit vorgeschritten. Vor mehr als zwei Jahren war die Delegation der französischen Flugtechniker den Worten der Presse zufolge über die auf diesem Gebiet gemachten Fortschritte „erstaunt und entzückt“. Sie hatte im besonderen Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass die Rote Armee in wachsender Anzahl schwere Bombenflugzeuge mit einem Aktionsradius von 1.200 bis 1.500 Kilometern baut: im Falle eines Krieges im Fernen Osten lägen somit die politischen und militärischen Zentren Japans im Aktionsbereich der Sowjetküste bei Wladiwostok, Nach Angaben, die in die Presse drangen, sah der Fünfjahresplan der Roten Armee für 1935 62 Flugregimenter vor, imstande, gleichzeitig 5.000 Flugzeuge an die Feuerlinie zu werfen. Kaum kann man zweifeln, dass der Plan erfüllt, ja, eher übertroffen wurde.

Das Flugwesen ist untrennbar verknüpft mit einem Industriezweig, den es im zaristischen Russland fast nicht gab, der aber in der letzten Periode kolossale Fortschritte machte: der Chemie. Es ist kein Geheimnis, dass die Sowjetregierung, wie übrigens alle Regierungen in der Welt, nicht eine Minute lang den wiederholten „Verboten“ der Giftgasanwendung traute. Das Werk der Zivilisatoren in Äthiopien hat aufs neue anschaulich gezeigt, was die humanitären Beschränkungen der internationalen Mordbrennerei wert sind. Man darf annehmen, dass die Rote Armee gegen irgendwelche katastrophalen Überraschungen seitens der Kriegschemie oder der Kriegsbakteriologie, dieser geheimsten und teuflischsten aller Fächer, kaum schlechter gewappnet ist als die Armeen des Westens.

Berechtigte Zweifel muss die Frage der Qualität der Kriegsindustrieerzeugnisse hervorrufen. Erinnern wir jedoch daran, dass in der UdSSR Produktionsmittel gediegener ausgeführt werden als Massengebrauchsartikel. Wo die Besteller einflussreiche Gruppen der herrschenden Bürokratie selber sind, übersteigt die Produktionsqualität erheblich den Durchschnitt, der sehr niedrig ist. Der einflussreichste Kunde ist die Militärkommandantur. Kein Wunder, dass die Mordmaschinen an Qualität nicht nur die Verbrauchsgegenstände, sondern auch die Produktionsmittel überragen. Die Kriegsindustrie bleibt nichtsdestoweniger ein Teil der Gesamtindustrie und spiegelt daher, wenn auch abgeschwächt, all deren Mängel wider. Woroschilow und Tuchatschewski verpassen keine Gelegenheit, um den ... Wirtschaftsverantwortlichen öffentlich einzuprägen: „Wir sind nicht immer vollauf befriedigt von der Qualität der Produktion, die ihr der Roten Armee liefert“. In den geschlossenen Sitzungen drücken sich die Leiter der Militärverwaltung gewiss kategorischer aus. Das Material zur Versorgung der Intendantur ist in der Regel minderwertiger als das Kampfmaterial. Die Stiefel sind schlechter als die Maschinengewehre. Aber auch der Flugmotor bleibt trotz unbestreitbarer Fortschritte noch erheblich hinter den besten westlichen Typen zurück, Das alte Gebot der Militärtechnik als Ganzes bleibt in Geltung: sich dem Niveau der künftigen Feinde so weit möglich anzunähern.

Schlimmer ist es mit der Landwirtschaft bestellt. In Moskau wird nicht selten wiederholt, die UdSSR sei, da das Einkommen aus der Industrie bereits das aus der Landwirtschaft übersteigt schon dadurch allein aus einem industriellen Agrarland zu einem agrarischen Industrieland geworden. In Wahrheit ist die neue Einkommensverteilung nicht so sehr durch das Wachsen der Industrie bestimmt, wie bedeutend es auch sei, als vielmehr durch das außerordentlich niedrige Niveau der Landwirtschaft. Die außergewöhnliche Nachgiebigkeit, welche die Sowjetdiplomatie jahrelang Japan gegenüber an den Tag legte, war unter anderem durch die heftigen Ernährungsschwierigkeiten hervorgerufen. Die letzten drei Jahre brachten jedoch beträchtliche Erleichterung und gestatteten im besonderen, im Fernen Osten ernst zu nehmende militärische Proviantdepots zu schaffen.

Der verwundbarste Punkt der Armee, so paradox es klingen mag, ist das Pferd. Im Taumel der restlosen Kollektivierung kamen rund 55% des Pferdebestands um. Allein, trotz der Motorisierung braucht die moderne Armee wie zu Napoleons Zeiten ein Pferd auf drei Soldaten. Im letzten Jahr ist jedoch ein günstiger Umschwung auch in dieser Hinsicht eingetreten: die Zahl der Pferde begann im Lande aufs neue zu steigen. Auf jeden Fall würde es, selbst wenn der Krieg in ein paar Monaten ausbräche, einem Staat mit einem 170 Millionenvolk immer möglich sein, die für die Front erforderlichen Nahrungsmittel und Pferde aufzubringen, versteht sich, auf Kosten der Zivilbevölkerung. Aber die Volksmassen aller Länder dürfen im Falle eines Krieges ja ohnedies auf nichts anderes gefasst sein als auf Hunger, Giftgase und Seuchen.
 
Die große französische Revolution schuf ihre Armee durch eine Vermischung der neuen Formationen mit den königlichen Linienbataillonen. Die Oktoberrevolution ließ von dem Zarenheer nicht einen Stein auf dem anderen. Die Rote Armee wurde von Grund auf neu gemauert. Von gleichem Alter wie das Sowjetregime, teilte sie im Großen wie im Kleinen dessen Los. Ihr unermessliches Übergewicht über das Zarenheer verdankte sie gänzlich der großen sozialen Umwälzung, Sie blieb jedoch von den Entartungsprozessen des Sowjetregimes nicht unberührt; im Gegenteil, diese kamen in ihr am vollendetsten zum Ausdruck. Bevor wir versuchen, die wahrscheinliche Rolle der Roten Armee im Weltengewitter des kommenden Krieges zu ermitteln, müssen wir bei der Evolution ihrer leitenden Ideen wie ihrer Struktur verweilen.

Der Erlass des Rats der Volkskommissare vom 12. Januar 1918, der den Grundstein für die regulären Streitkräfte legte, umriss ihre Bestimmung mit folgenden Worten: „Mit dem Übergang der Macht an die werktätigen und ausgebeuteten Klassen entstand die Notwendigkeit, eine neue Armee zu schaffen, die gegenwärtig zu einem Bollwerk für die Sowjetmacht ... und zur Unterstützung für die vorwärtsschreitende sozialistische Revolution in Europa wird“. An jedem 1, Mai sprechen die jungen Rotarmisten den „sozialistischen Eid“, der sich seit 1918 bis heute erhalten hat, und mit dem sie sich „vor dem Angesicht der werktätigen Klassen Russlands und der ganzen Welt“ verpflichten, im Kampf „für die Sache des Sozialismus und der Völkerverbrüderung weder Kräfte noch Leben zu schonen“. Wenn Stalin heute den internationalen Charakter der Revolution ein „komisches Missverständnis“ und „Unsinn“ nennt, so bekundet er unter anderem mangelnde Achtung vor Grunderlassen der Sowjetmacht, die bis auf den heutigen Tag nicht aufgehoben sind.

Die Armee nährte sich natürlich von denselben Ideen wie die Partei und der Staat. Gesetzgebung, Publizistik, mündliche Agitation waren gleichermaßen von der internationalen Revolution als praktischer Aufgabe beseelt. Im Rahmen des Militärs bekam das Programm des revolutionären Internationalismus häufig ein übertriebenes Aussehen. Der verstorbene 5. Gussew, eine Zeitlang Vorsteher der Politischen Armeebehörde und in der Folgezeit engster Bundesgenosse Stalins, schrieb 1921 in einer offiziellen Militärzeitschrift: „Wir bereiten die Klassenarmee des Proletariats vor..., nicht nur zur Verteidigung gegen die bürgerlich-grundherrschaftliche Konterrevolution, sondern auch zu revolutionären (sowohl Verteidigungs- wie Angriffs-)Kriegen gegen die imperialistischen Mächte“. wobei Gussew dem damaligen Kriegskommissar [Trotzki] vorwarf, die Rote Armee für ihre internationalen Aufgaben ungenügend vorzubereiten. Der Autor dieser Zeilen erklärte ihm in der Presse, dass die auswärtige Militärgewalt im revolutionären Prozess nicht berufen sei, die Haupt-, sondern eine Hilfsrolle zu spielen: nur bei Vorhandensein günstiger Bedingungen vermöge sie den Ausgang zu beschleunigen und den Sieg zu erleichtern. „Die militärische Intervention wirt ähnlich wie die Geburtszange: rechtzeitig angewandt, kann sie die Geburtswehen kürzen; vorzeitig ins Werk gesetzt, kann sie nur eine Fehlgeburt zeitigen“ (5. Dezember 1921). Wir können hier leider nicht mit der notwendigen Ausführlichkeit die ganze Geschichte dieses nicht unwichtigen Problems darlegen. Bemerken wir jedoch, dass sich im Jahre 1921 Tuchatschewski, heute Marschall, an die Kommunistische Internationale mit dem schriftlichen Vorschlag wandte, ihrem Präsidium einen „internationalen Generalstab“ anzugliedern; dieser interessante Brief wurde damals von Tuchatschewski in einem Sammelband seiner Artikel veröffentlicht unter dem sprechenden Titel: „Klassenkrieg“. Der talentierte, aber zu ausnehmendem Ungestüm neigende Feldherr musste aus einer gedruckten Erwiderung erfahren, dass „ein internationaler Generalstab nur auf der Grundlage von nationalen Stäben mehrerer proletarischer Staaten entstehen könnte; solange das nicht der Fall ist, wird sich ein internationaler Stab unvermeidlich in eine Karikatur verwandeln“. Viele von Stalins späteren engsten Mitarbeitern – wenn nicht vielleicht Stalin selbst, der es damals überhaupt vermied, in prinzipiellen Fragen vor allem neuen, eine bestimmte Stellung einzunehmen – standen in jenen Jahren „links“ von der Leitung der Partei und der Armee. In ihren Anschauungen gab es nicht wenig naive Übertreibungen oder, wenn man will, „komische Missverständnisse“: ist jedoch eine große Umwälzung möglich ohne das? Gegen die linke „Karikatur“ des Internationalismus führten wir den Kampf, lange bevor wir die Waffen gegen die nicht weniger karikaturenhafte Theorie vom „Sozialismus in einem Lande“ kehren mussten.

Entgegen den später in Kurs gesetzten retrospektiven Darstellungen war das geistige Leben gerade in der schwersten Periode des Bürgerkriegs ungemein rege. Auf allen Stockwerken der Partei und des Staatsapparats, und zwar auch der Armee, fanden breite Diskussionen statt über alle, vor allem aber militärische Fragen; die Politik der Leitung war einer freien, oft erbitterten Kritik unterworfen, Anlässlich gewisser Übergriffe der Militärzensur schrieb der damalige Kriegskommissar in einer führenden Militärzeitschrift: „Ich gebe gern zu, dass sich die Zensur eine Unmasse Fehlgriffe geleistet hat, und ich halte es für höchst notwendig, dieser anerkannten Einrichtung einen bescheideneren Platz zuzuweisen. Die Zensur soll das Kriegsgeheimnis hüten... alles übrige geht sie nichts an“ (23. Februar 1919).

Die Frage des internationalen Generalstabs war nur eine harmlose Episode in diesem Ideenkampf, der sogar, sich im Rahmen der Aktionsdisziplin haltend, zur Bildung einer Art oppositioneller Fraktion innerhalb der Armee, zumindest ihrer Oberschicht führte. Die Schule der „proletarischen Kriegsdoktrin“, der Frunse, Tuchatschewski, Gussew, Woroschilow u.a. angehörten oder sich anschlossen, ging von der apriorischen Überzeugung aus, dass die Rote Armee nicht nur in ihren politischen Zielen, sondern auch ihrer Struktur, Strategie und Taktik, nichts mit den Nationalheeren der kapitalistischen Länder gemein haben dürfe. Die neue herrschende Klasse müsse ein in jeder Beziehung besonderes Militärsystem besitzen. Man brauche es nur zu schaffen. Während des Bürgerkriegs beschränkte sich die Sache übrigens hauptsächlich auf prinzipielle Proteste gegen die Heranziehung der „Generäle“ d.h. ehemaliger Offiziere des Zarenheers, zum Heeresdienst, sowie auf eine Fronde gegen das Oberkommando. das mit lokalen Improvisationen und häufigen Disziplinverletzungen zu kämpfen hatte. Die extremsten Verkünder des neuen Worts versuchten sogar, namens der ins Absolute erhobenen strategischen Prinzipien der „Manövrierfähigkeit“ und der „Angriffsbereitschaft“, die zentralisierte Organisation der Armee als hinderlich für die revolutionäre Initiative auf den künftigen internationalen Schlachtfeldern abzulehnen. Im wesentlichen war dies ein Versuch, die Freischärlermethoden der ersten Bürgerkriegsperiode zu einem dauernden und universellen System zu erheben. Einige der revolutionären Feldherren traten um so lieber für die neue Doktrin ein, als sie die alte nicht erlernen wollten. Hauptherd dieser Stimmungen war Zarizyn (heute Stalingrad [inzwischen Wolgograd]), wo Budjonny, Woroschilow und später Stalin ihre militärische Wirksamkeit begannen.

Erst nach Eintritt des Friedens wurden systematischere Versuche unternommen, die Neuerungstendenzen in eine abgeschlossene Doktrin zu bringen. Als Initiator trat einer der hervorragendsten Befehlshaber des Bürgerkriegs auf, der verstorbene Frunse, ein ehemaliger politischer Verbannter, unterstützt von Woroschilow und zum Teil von Tuchatschewski. Im Grunde war die Proletarische Kriegsdoktrin völlig analog der Doktrin der „proletarischen Kultur“ und teilte gänzlich deren Schematismus und Metaphysik. In den wenigen von den Anhängern dieser Richtung hinterlassenen Arbeiten wurden diese und jene praktischen. gewöhnlich gar nicht neuen Rezepte durch Deduktion aus einer klischeehaften Charakterisierung des Proletariats als internationaler und angreifender Klasse abgeleitet, d.h. aus starren psychologischen Abstraktionen, und nicht aus den realen Bedingungen von Raum und Zeit. Der in jeder Zeile verkündigte Marxismus, verwandelte sich in Wirklichkeit in puren Idealismus. Bei aller Aufrichtigkeit dieser Gedankenverirrungen ist darin unschwer der Keim des rasch wachsenden Dünkels der Bürokratie zu entdecken, der Bürokratie, die glauben und andere glauben machen wollte, dass sie auf allen Gebieten ohne besondere Vorbereitung und selbst ohne materielle Voraussetzungen imstande sei, historische Wunder zu vollbringen.

Der damalige Kriegskommissar antwortete Frunse in der Presse: „Auch ich bezweifle nicht, dass die Strategie eines Landes mit entwickelter sozialistischen Wirtschaft, wäre es gezwungen, mit einem bürgerlichen Land Krieg zu führen, von völlig anderen Gesichtspunkten ausgehen würde. Doch das ist kein Grund, sich heute eine „proletarische Strategie“ aus den Fingern zu saugen ... Indem wir die sozialistische Wirtschaft entwickeln und das Kulturniveau der Massen heben..., werden wir ohne Zweifel die Kriegskunst mit neuen Methoden bereichern“. Doch dazu heiße es fleißig bei den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern lernen, ohne zu versuchen, „auf spekulativem Wege aus der revolutionären Natur des Proletariats eine neue Strategie abzuleiten“ (1. April 1922). Archimedes versprach, die Welt aus den Angeln zu heben, wenn man ihm einen festen Punkt gäbe. Das war nicht übel gesagt. Jedoch, hätte man ihm diesen Punkt gegeben, so würde sich herausgestellt haben, dass er weder den Hebel noch die Kraft besaß, ihn in Bewegung zu setzen. Die siegreiche Revolution hat einen neuen Stützpunkt geschaffen. Aber um die Welt aus den Angeln zu heben, muss erst noch der Hebel gebaut werden.

Die „Proletarische Kriegsdoktrin“ wurde, ebenso wie ihre ältere Schwester, die Doktrin der „proletarischen Kultur“, von der Partei abgelehnt. Jedoch ihre ferneren Geschicke waren, wenigstens dem Anschein nach, verschieden. Das Banner der „proletarischen Kultur“ pflanzten Stalin-Bucharin, freilich ohne merkliche Erfolge, während der siebenjährigen Periode zwischen der Verkündung des Sozialismus in einem Lande und der Aufhebung aller Klassen (1924-1931) wieder auf, Hingegen war der „Proletarischen Kriegsdoktrin“ kein Wiederauferstehen mehr beschieden, obwohl ihre ehemaligen Anhänger bald ans Ruder kamen. Der äußere Unterschied zwischen dem Schicksal zweier so verwandter Lehren ist sehr bezeichnend für die Entwicklung der Sowjetgesellschaft. Bei der „proletarischen Kultur“ ging es um unwägbare Dinge, und die Bürokratie gewährte dem Proletariat diesen moralischen Ausgleich um so großherziger. je brutaler sie es von der Macht wegstieß. Dagegen berührte die Kriegsdoktrin unmittelbar nicht nur die Interessen der Verteidigung, sondern auch die der herrschenden Schicht. Hier war kein Raum für ideologische Spielerei.

Diejenigen, die früher gegen die Heranziehung der „Generäle“ zur Armee waren, sind mittlerweile selbst Generäle geworden; die Herolde des internationalen Generalstabs besänftigten sich im Zeichen des Generalstabs „in einem Lande“: den „Klassenkrieg“ löste die Doktrin der „kollektiven Sicherheit“ ab; die Perspektive der Weltrevolution machte der Vergötterung des Status quo Platz. Um das Vertrauen der eventuellen Verbündeten zu gewinnen und die Gegner nicht allzu sehr zu reizen, galt es nicht mehr, sich von den kapitalistischen Armeen um jeden Preis zu unterscheiden, sondern im Gegenteil, ihnen so sehr wie möglich zu ähneln. Hinter den Wandlungen der Doktrin und dem Neuanstrich der Fassade vollzogen sich unterdessen soziale Prozesse von historischer Bedeutung. Das Jahr 1935 war für die Armee bedeutsam durch einen gewissermaßen zwiefachen Staatsstreich: in bezug auf das Milizsystem und den Kommandostab.

Zertrümmerung der Miliz und Wiederherstellung der Offiziersränge

In welchem Masse entspricht die Sowjetarmee am Ende des zweiten Jahrzehnts ihrer Existenz dem Typus, den die bolschewistische Partei auf ihr Banner geschrieben hatte?

Die Armee der proletarischen Diktatur soll entsprechend dem Programm „offenen Klassencharakter haben, d.h. sich ausschließlich aus dem Proletariat und den ihm nahestehenden halbproletarischen Schichten der Bauernschaft formieren. Erst im Zusammenhang mit der Vernichtung der Klassen wird eine solche Klassenarmee sich in die sozialistische Volksmiliz umwandeln“. Dadurch dass die Partei für die nächste Periode den allgemeinen Volkscharakter des Heeres verwarf, verzichtete sie keineswegs auf das Milizsystem. Im Gegenteil, laut Beschluss des 8. Kongresses (März 1919) „stellen wir die Miliz auf eine Klassengrundlage und verwandeln sie in eine Klassenmiliz“. Aufgabe der militärischen Arbeit sollte sein die allmähliche Schaffung einer Armee, „nach Möglichkeit nicht kaserniert, d.h. unter Bedingungen, die den Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse nahe kommen“. Letzten Endes sollten alle Armeeteile territorial zusammenfallen mit Fabriken, Bergwerken, Dörfern, landwirtschaftlichen Kommunen und sonstigen organischen Gruppierungen, die „einen lokalen Kommandostamm, lokale Waffen- und überhaupt Versorgungsreserven aller Art“ besitzen. Die Verbundenheit über Landsmannschaft, Schule, Betrieb und Sport sollte der Jugend den von der Kaserne gezüchteten Korpsgeist mehr als ersetzen und ihr eine bewusste Disziplin einimpfen, ohne Zutun eines über der Armee stehenden Korps von Berufsoffizieren.

Dem Wesen der sozialistischen Gesellschaft am meisten entsprechend, verlangt die Miliz jedoch ein hohes wirtschaftliches Fundament. Für eine kasernierte Armee werden künstliche Bedingungen geschaffen, ein Territorialheer dagegen spiegelt die tatsächliche Lage des Landes viel unmittelbarer wieder. Je niedriger die Kultur, je krasser der Unterschied zwischen Stadt und Land, um so unvollkommener und verschiedenartiger die Miliz. Unzulängliche Eisenbahnen, Straßen und Wasserwege, fehlende Autostraßen und mangelhafte Kraftwagenparks, all das verurteilt das Territorialheer in den ersten kritischen Kriegswochen und -monaten zu äußerster Langsamkeit. Zur Besetzung der Grenzen für die Zeit der Mobilmachung, zu strategischen Verschiebungen und Konzentrationen sind neben den Territorialtruppen auch kasernierte erforderlich. Die Rote Armee wurde von Anfang an als erzwungener Kompromiss zweier Systeme aufgebaut, bei Überwiegen der Kaserne.

Im Jahre 1924 schrieb der damalige Kriegskommissar: „Man muss sich stets zwei Dinge vor Augen halten: ist an sich durch das Sowjetregime zum ersten Mal die Möglichkeit eines Übergangs zum Milizsystem gegeben, so hängt doch das Tempo dieses Übergangs vom allgemeinen Stand der Kultur des Landes, der Technik, der Verkehrswege, der Bildung usw. ab. Die politischen Voraussetzungen für die Miliz sind bei uns unwiderruflich geschaffen, aber die wirtschaftlich-kulturellen sind äußerst zurückgeblieben“. Wären die notwendigen materielle Voraussetzungen vorhanden, das Territorialheer würde nicht nur nicht der Kasernenarmee nachstehen, sondern sie bei weitem übertreffen. Die Sowjetunion muss ihre Verteidigung teuer bezahlen, da sie für das billigere Milizheer nicht reich genug ist. Man wundere sich nicht: gerade wegen ihrer Armut hat sich die Sowjetgesellschaft ja auch die kostspielige Bürokratie auf den Hals geladen.

Dasselbe Problem – das Missverhältnis zwischen ökonomischem Unterbau und gesellschaftlichem Überbau – begegnet uns immer wieder mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit ausnahmslos auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Ob in Fabrik, Kolchos, Familie, Schule, Literatur oder in der Armee, der Widerspruch zwischen dem selbst vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen niedrigen Stand der Produktivkräfte und den im Prinzip sozialistischen Eigentumsformen liegt überall sämtlichen Beziehungen zu Grunde. Die neuen Gesellschaftsbeziehungen heben die Kultur empor. Die ungenügende Kultur jedoch zieht die Gesellschaftsformen hinab. Die Sowjetwirklichkeit ist die Resultante aus diesen beiden Tendenzen. Im Heer ist diese Resultante dank seiner äußerst präzisen Struktur in ziemlich genauen Zahlen zu ermitteln. Das Verhältnis zwischen Kasernen- und Miliztruppen ist kein so schlechtes Merkmal des tatsächlichen Vordringens zum Sozialismus.

Natur und Geschichte haben dem Sowjetstaat, bei geringer Bevölkerungsdichte und schlechten Verkehrswegen offene, 10.000 km voneinander entfernte Grenzen beschieden. Am 15. Oktober 1924 warnte das alte Kriegskommissariat in den letzten Monaten seines Wirkens nochmals, eins nicht zu vergessen: „In der nächsten Zeit wird der Aufbau der Miliz zwangsläufig vorbereitender Natur sein müssen. Jeden nächstfolgenden Schritt müssen wir aus dem streng geprüften Ergebnis des vorhergehenden ableiten“, Aber 1925 brach eine neue Ära an: an die Macht kamen nun die ehemaligen Verkünder der Proletarischen Kriegsdoktrin. Dem Wesen der Sache nach widersprach das Territorialheer radikal dem Ideal der „Angriffsbereitschaft“ und „Manövrierfähigkeit“, von dem diese Schule ausgegangen war. Doch die Weltrevolution geriet allmählich in Vergessenheit. Den Krieg hofften die neuen Führer durch „Neutralisierung“ der Bourgeoisie zu vermeiden. Im Laufe der nächsten Jahre wurden 74% der Armee auf die Milizgrundlagen gestellt.

Solange Deutschland abgerüstet und zudem noch „befreundet“ blieb, basierten die Berechnungen des Moskauer Generalstabs hinsichtlich der Westgrenzen auf den Streitkräften der unmittelbaren Nachbarn – Rumänien, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland, denen wahrscheinlich materielle Unterstützung durch mächtigere Gegner, hauptsächlich Frankreich, zuteil werden würde: in jener fernen Zeit (sie endete 1933) war Frankreich noch nicht der ausersehene „Friedensfreund“. Die Randstaaten könnten insgesamt ungefähr 120 Infanteriedivisionen, d.h. etwa 3.500.000 Menschen stellen. Der Mobilmachungsplan der Roten Armee sah an der Westgrenze eine Armee erster Ordnung von annähernd derselben Größe vor. Im fernen Osten kann, entsprechend allen Umständen des Kriegsschauplatzes nur von Hunderttausenden nicht aber von Millionen Kämpfern die Rede sein. Je hundert Frontsoldaten brauchen im Laufe eines Jahres als Ersatz für Verluste annähernd 75 Mann. Zwei Jahre Krieg müssten, sieht man von den aus den Lazaretten an die Front Zurückkehrenden ab, dem Lande etwa 10 bis 12 Millionen Menschen entziehen, Die Rote Armee zählte 1935 insgesamt 562.000 Mann, mit den GPU-Truppen 620.000, davon 40.000 Offiziere, wobei noch Anfang 1935 wie gesagt 74% auf die territorialen und nur 26% auf die kasernierten Divisionen entfielen. Bedarf es eines besseren Beweises, dass die sozialistische Miliz, wenn nicht zu 100, so doch zu 74%, jedenfalls aber „endgültig und unwiderruflich“ gesiegt hat?
Jedoch all diese, schon an und für sich reichlich bedingten Berechnungen, hingen nach Hitlers Machtübernahme plötzlich in der Luft. Deutschland begann, fieberhaft zu rüsten, in erster Linie gegen die UdSSR Die Perspektive friedlichen Zusammenlebens mit dem Kapitalismus war mit einem Male dahin. Die schnell nahende Kriegsgefahr veranlasste die Sowjetregierung, außer einer Erhöhung der Streitkräfte auf 1.300.000 Mann, auch die Struktur der Roten Armee radikal zu ändern: gegenwärtig umfasst die Rote Armee 77% sogenannte „Kader“- und nur 23% Territorialdivisionen! Diese Zerstörung der Territorialtruppen ähnelt nur allzu sehr einem Verzicht auf das Milizsystem, vergisst man nicht, dass die Armee nicht für ungetrübte Friedenszeiten, sondern gerade für den Kriegsfall gebraucht wird. So zeigt die geschichtliche Erfahrung, angefangen mit dem Gebiet, auf dem es sich am wenigsten spaßen lässt, unbarmherzig, dass nur das „endgültig und unwiderruflich“ erkämpft ist, was durch die Produktionsgrundlagen der Gesellschaft gesichert wurde.

Immerhin erscheint das Hinabgleiten von 74% auf 23% über die Maßen stark. Das geschah vermutlich nicht ohne „freundschaftlichen“ Druck seitens des französischen Generalstabs. Noch wahrscheinlicher ist, dass die Bürokratie die günstige Gelegenheit nutzte, um diese in bedeutendem Maße von politischen Erwägungen diktierte Zerschlagung vorzunehmen. Die Milizdivisionen stehen ihrer ganzen Natur nach in unmittelbarer Abhängigkeit von der Bevölkerung: darin liegt eben, vom sozialistischen Standpunkt aus gesehen, der wesentliche Vorteil dieses Systems, aber auch vom Standpunkt des Kreml, sein Nachteil, Lehnen doch die Militärfachleute der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder, wo die Miliz technisch durchaus verwirklichbar wäre, sie gerade wegen der allzu großen Nähe des Heeres zum Volke ab. Die starke Gärung in der Roten Armee in den Jahren des ersten Fünfjahresplanes war zweifellos ein ernster Grund für die spätere Zerschlagung der Territorialdivisionen.
Unsere Annahme ließe sich unbestreitbar durch ein genaues Diagramm der Roten Armee vor und nach der Gegenreform bestätigen; die Daten eines solchen Diagramms besitzen wir jedoch nicht, und besäßen wir sie, würden wir es nicht für möglich erachten, sie öffentlich auszuwerten. Es gibt aber eine allen zugängliche Tatsache, die nur eine Deutung zulässt: zur selben Zeit, als die Sowjetregierung das spezifische Gewicht der Miliz in der Armee um 51% verringert, stellt sie das Kosakentum wieder her, die einzige Milizformation der Zarenarmee! Die Kavallerie ist stets ein privilegierter und der konservativste Teil der Armee. Die Kosaken aber waren von jeher der konservativste Teil der Kavallerie. Während des Krieges und der Revolution dienten sie als Polizeimacht, erst dem Zaren, dann Kerenski. Unter der Sowjetmacht blieben sie unabänderlich die Vendée. Die Kollektivierung, die zudem bei den Kosaken besonders gewaltsam durchgeführt wurde, hat deren Traditionen und Denkart natürlich noch nicht verändern können. Dafür wurde den Kosaken ausnahmsweise das Recht eingeräumt, eigene Pferde zu halten. Auch an anderen Begünstigungen besteht natürlich kein Mangel. Kann man daran zweifeln, dass die Steppenreiter sich aufs neue auf die Seite der Privilegierten gegen die Unzufriedenen schlagen werden? Auf dem Hintergrund unausgesetzter Repression gegen die oppositionelle Arbeiterjugend ist die Wiederauferstehung der Hosenstreifen und Schöpfe der Kosaken zweifellos eine der krassesten Erscheinungen des Thermidor!
 
Ein noch betäubenderer Schlag für die Oktoberrevolution war das Dekret über die Wiederherstellung des Offizierskorps in seiner ganzen bürgerlichen Herrlichkeit. Der Stab der Roten Armee ist mit allen seinen Mängeln, aber auch unschätzbaren Verdiensten aus der Revolution und dem Bürgerkrieg hervorgegangen. Die Jugend, der selbständige politische Tätigkeit untersagt ist, entsendet zweifellos nicht wenige hervorragende Vertreter in die Reihen der Roten Armee. Andererseits musste auch die fortschreitende Umwandlung des Staatsapparates sich auf breite Kreise des Kommandostabs auswirken. Auf einer öffentlichen Tagung entwickelte Woroschilow Allgemeinplätze darüber, wie notwendig es sei, dass der Kommandeur seinen Untergebenen zum Vorbild diene, er hielt es aber für nötig, sofort zu bekennen: „Leider kann ich mich nicht sehr rühmen“,: die einfachen Soldaten machen Fortschritte, „die Kommandokader kommen häufig nicht mit“: „oft indes sind die Kommandeure nicht in der Lage, auf neue Anforderungen zu reagieren, wie es sich gehört“, usw. Dies bittere Bekenntnis des wenigstens der Form nach verantwortlichsten Heerführers kann wohl Unruhe hervorrufen, aber kein Erstaunen: was Woroschilow von den Kommandeuren sagt, gilt für die ganze Bürokratie, Allerdings, der Redner selbst lässt nicht einmal den Gedanken zu, dass die herrschende Spitze zu denen gerechnet werden könne, die „nicht mitkommen“: nicht umsonst schilt sie stets und überall gegen jedermann, stampft sie mit den Füßen und befiehlt, auf der Höhe zu sein. Jedoch in Wirklichkeit ist gerade diese kontrolllose Korporation der „Führer“, zu der Woroschilow gehört, die Hauptursache des Zurückbleibens, der Routine und vieles anderes mehr.

Das Heer ist ein Abbild der Gesellschaft und leidet an all ihren Krankheiten, meistens mit erhöhter Temperatur, Das Kriegshandwerk ist zu rau, um sich mit Fiktionen und Fälschungen zufriedenzugeben. Das Heer braucht die frische Luft der Kritik. Der Stab braucht demokratische Kontrolle. Die Organisatoren der Roten Armee haben von Anfang an die Augen hiervor nicht verschlossen und hielten es für notwendig, Maßnahmen wie die Wählbarkeit des Kommandopersonals vorzubereiten. „Das Wachsen der inneren Geschlossenheit der Truppen, die Entwicklung der Selbstkritik der Soldaten sich und ihren Offizieren gegenüber...“. so lautet der grundlegende Beschluss der Partei zur Militärfrage, „schaffen jene günstigen Bedingungen, unter denen das Prinzip der Wählbarkeit des Kommandopersonals immer größere Anwendbarkeit erhalten kann“. Jedoch, fünfzehn Jahre nachdem dieser Beschluss gefasst wurde – eine doch offenbar genügende Frist, um den inneren Zusammenhalt und die Selbstkritik zu festigen – hat die herrschende Spitze den direkt entgegengesetzten Weg eingeschlagen.

Im September 1935 erfuhr die zivilisierte Menschheit, Freunde wie Feinde, nicht ohne Erstaunen, dass die Rote Armee von nun an eine Offiziershierarchie krönen würde, die beim Leutnant beginnt und beim Marschall aufhört. Nach einer Erklärung Tuchatschewskis, des tatsächlichen Militärchefs, „schafft die Einführung der Militärtitel durch die Regierung eine festere Grundlage zur Heranbildung der kommandierenden und der technischen Kader“, Die Erklärung ist bewusst zweideutig. Die Kommandokader werden vor allem durch das Vertrauen der Soldaten gefestigt. Eben darum begann die Rote Armee mit der Abschaffung des Offizierskorps. Die Wiederherstellung der hierarchischen Kaste ist im Interesse der militärischen Sache keineswegs erforderlich. Praktisch von Bedeutung ist der Kommandoposten, nicht die Rangstufe. Ingenieure oder Ärzte haben keinen Rang, und dennoch findet die Gesellschaft Mittel, jeden von ihnen an den rechten Platz zu stellen. Das Recht auf einen Kommandoposten wird erworben durch Studium, Begabung, Charakter, Erfahrung, die einer ununterbrochenen und zwar individuellen Bewertung bedürfen. Der Majorsrang wird dem Bataillonskommandanten nichts hinzufügen. Die Erhebung der fünf Oberbefehlshaber der Roten Armee in den Marschallstand wird ihnen weder neue Talente noch mehr Macht verleihen. Auf „feste Grundlage“ wird in Wirklichkeit nicht das Heer, sondern das Offizierskorps gestellt, um den Preis der Distanzierung von der Armee. Die Reform verfolgt einen rein politischen Zweck: den Offizieren ein neues soziales Gewicht zu verleihen. So hat Molotow das Dekret im Grunde auch ausgelegt: „die Bedeutung der leitenden Kader unseres Heeres heben“. Die Sache beschränkt sich dabei nicht bloß auf die Einführung der Titel. Gleichzeitig ist ein verstärkter Wohnungsbau für das Kommandopersonal zu beobachten: im Jahre 1936 sollen 47.000 Zimmer bereitgestellt werden; für den Sold wurden 57% mehr bewilligt als im vergangenen Jahr. „Die Bedeutung der leitenden Kader heben“, heißt, das Offizierskorps um den Preis einer Schwächung des moralischen Zusammenhalts der Armee enger mit den herrschenden Spitzen zu verbinden.

Bemerkenswert ist, dass die Reformatoren es nicht für nötig hielten, für die wiedereingeführten Rangstufen neue Benennungen zu erfinden: im Gegenteil, sie wollten offensichtlich mit dem Westen Tritt fassen. Gleichzeitig zeigten sie ihre Achillesferse, indem sie es nicht gewagt haben, den Generalstitel wiedereinzuführen, der in der Sprache des russischen Volkes allzu ironisch klingt. Die Sowjetpresse hat, als sie die Erhebung von fünf militärischen Würdenträgern in den Marschallstand meldete – die Auswahl der Fünf ist, nebenbei bemerkt, mehr gemäß der persönlichen Ergebenheit zu Stalin erfolgt als nach Begabung und Verdiensten – nicht vergessen. hierbei auch an die Zarenarmee zu erinnern, mit ihrem... „Kastengeist, ihrer Titelverehrung und Unterwürfigkeit“. Wozu sie dann so sklavisch nachahmen, fragt man sich. Zur Schaffung neuer Privilegien benutzt die Bürokratie auf Schritt und Tritt die Argumente, die einst zur Vernichtung der alten Privilegien dienten. Unverschämtheit mischt sich mit Feigheit, ergänzt durch immer stärkere Dosen Heuchelei.
So unerwartet auf den ersten Blick die offizielle Wiederauferstehung „des Kastengeistes, der Titelverehrung und der Unterwürfigkeit“ auch scheinen mag, man muss zugeben, dass die Regierung in der Wahl des Weges kaum mehr große Freiheit hatte. Die Beförderung der Kommandeure nach Gesichtspunkten persönlicher Befähigung ist verwirklichbar nur bei Vorhandensein von Initiativ- und Kritikfreiheit in der Armee selbst und von Kontrolle über die Armee seitens der öffentlichen Meinung des Landes. Strenge Disziplin kann sich ausgezeichnet mit größter Demokratie vertragen und sich sogar unmittelbar auf sie stützen. Allein, keine Armee vermag demokratischer zu sein als das sie nährende Regime. Quelle des Bürokratismus mit seiner Routine und seinem Dünkel sind nicht die besonderen Erfordernisse des Militärwesens, sondern die politischen Bedürfnisse der herrschenden Schicht. In der Armee kommen diese nur am vollendetsten zum Ausdruck. Die Wiederherstellung der Offizierskaste achtzehn Jahre nach ihrer revolutionären Abschaffung zeugt gleich stark sowohl von dem Abgrund, der die Leitenden bereits von den Geleiteten trennt, wie davon, dass die Sowjetarmee ihre wichtigsten Eigenschaften, die ihr erlaubten, sich „Rote“ Armee zu nennen, eingebüßt hat, wie schließlich von dem Zynismus, mit dem die Bürokratie diese Zersetzungswirkungen zum Gesetz erhebt.

Die bürgerliche Presse hat diese Gegenreform nach Gebühr beurteilt. Das französische halbamtliche Blatt Le Temps schrieb am 25. September 1935: „Dieser äußere Wandel ist eines der Anzeichen der tiefen Transformation, die sich heute in der ganzen Sowjetunion vollzieht. Das heute endgültig gefestigte Regime stabilisiert sich allmählich. Die revolutionären Gewohnheiten und Gebräuche innerhalb der Sowjetfamilie und der Sowjetgesellschaft machen Gefühlen und Sitten Platz, die nach wie vor innerhalb der sogenannten kapitalistischen Länder herrschen. Die Sowjets verbürgerlichen“. Diesem Urteil ist fast nichts hinzuzufügen.

Die UdSSR im Kriege

Die Kriegsgefahr ist nur eine der Formen, in der sich die Abhängigkeit der Sowjetunion von der übrigen Welt ausdrückt, folglich auch eins der Argumente gegen die Utopie einer isolierten Sowjetgesellschaft; aber gerade in der Gegenwart wird dies schreckliche „Argument“ in erster Linie vorgebracht.

Alle Faktoren der bevorstehenden Völkerschlacht im voraus berechnen, ist ein hoffnungsloses Unternehmen: wäre eine derartige apriorische Berechnung möglich, so würde der Interessenkonflikt immer mit einem friedlichen Buchhaltervergleich beigelegt werden. Die blutige Gleichung des Krieges enthält viele Unbekannten. Auf der Seite der Sowjetunion gibt es jedenfalls gewaltige Plusgrößen, sowohl aus der Vergangenheit geerbte, als auch vom neuen Regime geschaffene. Die Erfahrung der Interventionen in der Bürgerkriegsperiode hat erneut bewiesen, dass die Flächenausdehnung Russlands größter Vorteil war und bleibt. Sowjetungarn wurde vom ausländischen Imperialismus, allerdings nicht ohne Mithilfe der unseligen Regierung Béla Kun, in einigen Tagen gestürzt. Sowjetrussland, das von Anfang an von seinen Randgebieten abgeschnitten war, kämpfte drei Jahre lang gegen die Interventionen; in gewissen Momenten reduzierte sich das Territorium der Revolution fast auf das alte Moskauer Fürstentum, aber das genügte, um sich zu halten und später auch zu siegen.

Ein zweiter großer Vorteil ist das Menschenreservoir. Bei einer jährlichen Zunahme von 3 Millionen hat die Bevölkerung der UdSSR offenbar 170 Millionen bereits überschritten. Ein einziger Rekrutenjahrgang beträgt etwa 1.300.000 Mann. Allerstrengste körperliche und politische Auslese entfernt nicht mehr als 400.000. Die Reserven, die man theoretisch auf 18 bis 20 Millionen schätzen darf, sind praktisch unbegrenzt.

Aber die Natur und die Menschen sind nur das Rohmaterial des Krieges. Das sogenannte Kriegs-„Potential“ hängt vor allem von der wirtschaftlichen Stärke des betreffenden Staates ab. Auf diesem Gebiet sind die Vorteile der Sowjetunion im Vergleich zum alten Russland gewaltig. Die Planwirtschaft hat bisher, wie bereits gesagt, die größten Vorzüge gerade vom militärischen Standpunkt gezeitigt. Die Industrialisierung der Randgebiete, besonders Sibiriens, gibt den ausgedehnten Steppen und Wäldern ganz neuen Wert. Die geringe Arbeitsproduktivität, die ungenügende Qualität der Produktion und die unzulänglichen Verkehrsmittel, all das wird durch die Flächenausdehnung. die Naturreichtümer und die hohe Bevölkerungszahl nur bis zu einem gewissen Grad ausgeglichen. In Friedenszeiten kann die ökonomische Kraftprobe der feindlichen sozialen Systeme – lange, aber keinesfalls für immer – mit Hilfe politischer Maßnahmen, hauptsächlich des Außenhandelsmonopols, aufgeschoben werden. Während des Krieges geschieht sie unmittelbar auf den Schachtfeldern. Daher die Gefahr.

Wenn militärische Niederlagen an sich auch gewöhnlich große politische Veränderungen hervorrufen, bewirken sie jedoch bei weitem nicht immer eine Erschütterung der ökonomischen Grundlagen der Gesellschaft. Eine Gesellschaftsordnung, die höheren Reichtum und höhere Kultur sichert, kann nicht durch Bajonette gestürzt werden. Im Gegenteil, die Sieger übernehmen Institutionen und Sitten der Besiegten, wenn ihnen diese in ihrer Entwicklung überlegen sind. Eigentumsformen können nur dann mit Waffengewalt gestürzt werden, wenn sie sich in scharfem Widerspruch zu den ökonomischen Grundlagen des Landes befinden. Eine Niederlage Deutschlands im Kriege gegen die Sowjetunion würde unweigerlich nicht nur den Zusammenbruch Hitlers, sondern auch des kapitalistischen Systems nach sich ziehen. Andererseits kann man kaum daran zweifeln, dass eine militärische Niederlage nicht nur der herrschenden Sowjetschicht. sondern auch den sozialen Grundlagen der UdSSR zum Verhängnis gereichen würde. Die Unsicherheit des heutigen Regimes in Deutschland ist bedingt dadurch, dass seine Produktivkräfte längst über die kapitalistischen Eigentumsformen hinausgewachsen sind. Und umgekehrt ist die Unsicherheit des Sowjetregimes dadurch hervorgerufen, dass seine Produktivkräfte den sozialistischen Eigentumsformen noch längst nicht gewachsen sind. Die sozialen Grundlagen der UdSSR sind durch eine militärische Niederlage aus demselben Grunde gefährdet, aus dem sie in Friedenszeiten der Bürokratie und des Außenhandelsmonopols bedürfen, d.h. wegen ihrer Schwäche.

Kann man jedoch erwarten, dass die Sowjetunion aus dem kommenden großen Krieg ohne Niederlage hervorgehen wird? Auf diese deutlich gestellte Frage wollen wir ebenso deutlich antworten: bliebe der Krieg nur ein Krieg, dann wäre die Niederlage der Sowjetunion unvermeidlich. Technisch, wirtschaftlich und militärisch ist der Imperialismus unvergleichlich stärker. Wenn die Revolution im Westen ihn nicht lähmt, wird er das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Regime auslöschen.

Man mag antworten, „Imperialismus“ sei eine Abstraktion, da ihn selbst Gegensätze zerreißen. Vollkommen richtig: gäbe es diese Widersprüche nicht, die Sowjetunion wäre längst von der Bildfläche verschwunden. Auf diesen Gegensätzen ruhen im besonderen die diplomatischen und militärischen Abkommen der UdSSR. Es wäre jedoch ein verhängnisvoller Fehler. nicht die Grenze zu sehen, wo diese Gegensätze verstummen müssen. So wie der Kampf zwischen den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, von den allerreaktionärsten bis zu den sozialdemokratischen, vor der unmittelbaren Gefahr der proletarischen Revolution aufhört, so werden auch die imperialistischen Widersacher stets ein Kompromiss finden, um den militärischen Sieg der Sowjetunion zu vereiteln.
Diplomatische Abmachungen sind, wie ein Kanzler [der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg 1914] nicht zu Unrecht sagte, nur „Fetzen Papier“. Nirgends steht geschrieben, ob sie auch nur den Kriegsausbruch erleben werden. Bei der unmittelbaren Gefahr einer sozialen Umwälzung in irgendeinem Teil Europas wird kein einziger Vertrag mit der UdSSR. standhalten. Genügen würde, dass die politische Krise in Spanien – von Frankreich schon gar nicht zu reden – in eine revolutionäre Phase tritt, damit alle bürgerlichen Regierungen unwiderstehlich gepackt werden von den von Lloyd George gepredigten Hoffnungen auf Hitler den Retter. Würde andererseits die unsichere Lage in Spanien, Frankreich, Belgien u.a. mit einem vollen Sieg der Reaktion enden, so bliebe von den Sowjetpakten ebenfalls keine Spur. Schließlich darf man bei der Variante, dass die „Fetzen Papier“ noch in der ersten Zeit der Kriegsoperationen in Kraft bleiben, nicht daran zweifeln, dass die Kräftegruppierung in der entscheidenden Phase des Krieges von Faktoren unermesslich größerer Bedeutung bestimmt werden, als es die Eide der Diplomaten, diesen Eidbrüchigen von Beruf, sind.
Die Lage würde sich natürlich gründlich ändern, wenn die bürgerlichen Verbündeten die materiellen Garantien bekämen, dass die Moskauer Regierung nicht nur militärisch, sondern auch klassenmäßig mit ihnen im selben Schützengraben steht. Die kapitalistischen „Friedensfreunde“ werden sich die Schwierigkeiten der zwischen zwei Feuer geratenen UdSSR zunutze machen und selbstverständlich alle Maßnahmen ergreifen um in das Außenhandelsmonopol und die Sowjeteigentumsgesetze eine Bresche zu schlagen. Die wachsende „Vaterlandsverteidigungs“bewegunq innerhalb der weißen russischen Emigration Frankreichs und der Tschechoslowakei fußt gänzlich auf solchen Berechnungen. Und nimmt man an, dass das Weltringen sich ausschließlich auf der Ebene des Krieges abspielt, so werden die Verbündeten ernsthafte Aussicht haben, ihr Ziel zu erreichen. Ohne Dazwischentreten der Revolution werden die sozialen Grundlagen der UdSSR nicht nur im Falle einer Niederlage, sondern auch eines Sieges Schiffbruch erleiden müssen.

Vor mehr als zwei Jahren zeichnete das programmatische Dokument „Die 4. Internationale und der Krieg“ diese Perspektive mit folgenden Worten: „Unter dem Einfluss des dringenden Bedürfnisses des Staates nach den allernotwendigsten Gegenständen werden die individualistischen Tendenzen der Bauernwirtschaft eine beträchtliche Stärkung erfahren und die Zentrifugalkräfte innerhalb der Kolchosen mit jedem Kriegsmonat wachsen... In der überhitzten Kriegsatmosphäre darf man gefasst sein auf... Heranziehung auswärtigen „verbündeten“ Kapitals, Breschen im Außenhandelsmonopol Abschwächung der Staatskontrolle über die Trusts, Verschärfung der Konkurrenz unter den Trusts, ihren Zusammenprall mit den Arbeitern usw. ... Mit anderen Worten: im Falle eines langen Krieges, bei Passivität des Weltproletariats würden die inneren sozialen Widersprüche der UdSSR zur bürgerlich-bonapartischen Konterrevolution nicht nur führen können, sondern müssen“. Die Ereignisse der letzten zwei Jahre verleihen dieser Voraussage doppelte Kraft.

Aus all dem vorher Gesagten ergeben sich jedoch keinesfalls sogenannte „pessimistische“ Schlussfolgerungen. Wollen wir weder vor dem riesigen materiellen Übergewicht der kapitalistischen Welt, noch vor dem unausbleiblichen Treubruch der imperialistischen „Verbündeten“ noch vor den inneren Widersprüchen des Sowjetregimes die Augen verschließen, so sind wir andererseits keineswegs geneigt, die Haltbarkeit des kapitalistischen Systems sowohl der feindlichen als auch der verbündeten Länder zu überschätzen. Lange bevor der Ermattungskrieg das ökonomische Kräfteverhältnis bis auf den Grund wird ausmessen können, wird er die relative Stabilität ihrer Regime auf die Probe gestellt haben. Alle ernsten Theoretiker des zukünftigen Völkermordens rechnen in seinem Gefolge mit der Wahrscheinlichkeit, ja Unvermeidlichkeit der Revolution. Die in gewissen Kreisen immer wieder auftauchende Idee kleiner „Berufs“-Armeen, kaum realer als die Idee eines Heldenzweikampfes nach dem Vorbild Goliaths und Davids, enthüllt durch ihre Fantasterei die reale Angst vor dem bewaffneten Volke. Hitler versäumt keine Gelegenheit, seine „Friedensliebe“ zu bekräftigen unter Berufung auf die Unvermeidlichkeit eines neuen bolschewistischen Ansturms im Falle eines Krieges im Westen. Die Kraft, die einstweilen die Kriegsfurie noch bändigt, ist nicht der Völkerbund, sind nicht die Garantieverträge und pazifistischen Volksbefragungen, sondern einzig und allein die heilsame Angst der Herrschenden vor der Revolution.

Gesellschaftliche Regime gilt es wie alle anderen Erscheinungen relativ einzuschätzen. Trotz all seinen Widersprüchen hat das Sowjetregime hinsichtlich der Stabilität immer noch große Vorzüge im Vergleich zu den Regimes seiner wahrscheinlichen Gegner. Schon die Möglichkeit der Naziherrschaft über das deutsche Volk ist eine Folge der unerträglichen Spannung der sozialen Gegensätze in Deutschland. Sie sind nicht beseitigt und nicht einmal gemildert, sondern nur mit dem Bleideckel des Faschismus zugedeckt. Ein Krieg wird sie wieder hervorbrechen lassen. Hitler hat viel weniger Aussichten, einen Krieg siegreich zu beenden als Wilhelm II. Nur eine rechtzeitige Revolution könnte Deutschland vor dem Kriege und so vor einer neuen Niederlage bewahren.

Die Weltpresse stellt das blutige Abrechnen der japanischen Offiziere mit den Ministern als unvorsichtige Äußerungen eines allzu glühenden Patriotismus dar. In Wirklichkeit gehören diese Handlungen, trotz der Unterschiede in der Ideologie, zur selben historischen Kategorie wie die Bomben der russischen Nihilisten gegen die Zarenbürokratie. Japans Bevölkerung erstickt unter dem vereinten Druck des asiatischen Agrarjochs und ultramoderner kapitalistischer Ausbeutung. Korea, Mandschukuo, China werden sich beim ersten Nachlassen der Militärschraube gegen die japanische Tyrannei erheben. Der Krieg wird das Imperium des Mikado in die gewaltigste aller sozialen Katastrophen stürzen.

Nicht viel besser ist die Lage Polens. Pilsudskis Regime, das unfruchtbarste aller Regime, erwies sich als außerstande, die Hörigkeit des Bauern auch nur zu mildern. Die Westukraine (Galizien) lebt unter schwerer nationaler Bedrückung. Die Arbeiter erschüttern das Land durch ununterbrochene Streiks und Empörungen. Durch ihre Versuche, sich durch ein Bündnis mit Frankreich und durch Freundschaft mit Deutschland Sicherheit zu verschaffen, und mit ihren Manövern vermag die polnische Bourgeoisie nur den Krieg zu beschleunigen, um dann um so sicherer darin umzukommen.

Die Gefahr des Krieges und einer Niederlage für die UdSSR. ist Realität. Aber auch die Revolution ist Realität. Wenn die Revolution den Krieg nicht verhindern wird, so wird der Krieg der Revolution helfen. Eine zweite Geburt ist meistens leichter als die erste. im neuen Kriege wird man nicht zweieinhalb Jahre auf den ersten Aufstand warten müssen. Einmal begonnen, wird die Revolution dann nicht mehr auf halbem Wege stehen bleiben. Das Schicksal der UdSSR wird letzten Endes nicht auf der Generalstabskarte entschieden, sonderndem auf der Karte der Klassenkämpfe. Nur das europäische Proletariat, das seiner Bourgeoisie, auch im Lager der „Friedensfreunde“ unversöhnlich trutzt wird die UdSSR. vor einer Zerschmetterung oder einem Dolchstoß in den Rücken seitens ihrer „Verbündeten“ bewahren können. Ja, sogar eine militärische Niederlage der UdSSR. wäre im Falle des Sieges des Proletariats in anderen Ländern nur eine kurze Episode. Umgekehrt aber wird kein militärischer Sieg das Erbe der Oktoberrevolution retten können, wenn in der übrigen Welt der Imperialismus sich behauptet.

Die Nachbeter der Sowjetbürokratie werden sagen, wir „unterschätzen“ die inneren Kräfte der UdSSR., die Rote Armee usw., wie sie auch sagten, wir „leugneten“ die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande. Diese Argumente stehen auf einem so tiefen Niveau, dass sie nicht einmal einen fruchtbaren Meinungsaustausch zulassen. Ohne Rote Armee würde die Sowjetunion ähnlich wie China erdrückt und zerstückelt werden. Nur ihr hartnäckiger, heroischer Widerstand gegen die künftigen kapitalistischen Feinde kann günstige Voraussetzungen für die Entwicklung des Klassenkampfes im Lager des Imperialismus schaffen. Die Rote Armee ist somit ein Faktor von größter Bedeutung. Das heißt aber nicht, dass sie der einzige historische Faktor ist. Genug schon, dass sie der Revolution einen mächtigen Antrieb geben kann. Aber nur die Revolution kann die Hauptarbeit leisten, der die Rote Armee allein nicht gewachsen ist.

Niemand verlangt von der Sowjetregierung internationale Abenteuer, Unbesonnenheiten, Versuche, den Gang der Weltereignisse gewaltsam zu forcieren. Im Gegenteil, sofern solche Versuche von der Bürokratie in der Vergangenheit gemacht wurden (Bulgarien, Estland, Kanton u.a.) haben sie nur der Reaktion in die Hände gespielt und sind seinerzeit von der linken Opposition verurteilt worden. Es handelt sich um die allgemeine Richtung der Politik des Sowjetstaates. Die Widersprüche zwischen seiner Außenpolitik und den Interessen des Weltproletariats sowie der Kolonialvölker kommen am verheerendsten zum Ausdruck in der Unterwerfung der Komintern unter die konservative Bürokratie mit ihrer neuen Religion der Regungslosigkeit.

Nicht unter dem Banner des Status quo werden sich die europäischen Arbeiter und Kolonialvölker gegen den Imperialismus und den neuen Krieg erheben können, der ausbrechen und den Status quo mit fast derselben Unvermeidlichkeit umstürzen muss, mit der ein ausgereifter Embryo den Status quo der Schwangerschaft durchbricht. Die Werktätigen haben nicht das geringste Interesse, die heutigen Grenzen, insbesondere in Europa zu verteidigen, weder unter dem Kommando ihrer Bourgeoisie, noch erst recht im revolutionären Aufstand gegen sie. Europas Verfall ist gerade dadurch verursacht, dass es ökonomisch in beinahe vierzig scheinbare Nationalstaaten zerfällt, die mit ihren Zöllen, Pässen, Währungen und ungeheuerlichen Armeen zum Schutz des nationalen Partikularismus das größte Hemmnis für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Menschheit geworden sind.

Aufgabe des europäischen Proletariats ist nicht, die Grenzen zu verewigen, sondern im Gegenteil, sie revolutionär zu beseitigen. Nicht Status quo, sondern Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa!



Kapitel IX:
Was ist die UdSSR?